zur Materialienseite
  Arbeit ist wichtig. Leben auch.
Bewältigung von Erwerbslosigkeit: Erfahrungsbericht aus der psychosozialen Beratungsstelle der SPSH
  Vortrag, gehalten auf der Tagung 'Arbeitslosigkeit und Gesundheit' der Hamburgischen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung (HAG) am 4.11.1998; erschienen in der Dokumentation: 'Gesündere Stadt', Hg.: HAG, Hamburg 1999

 

  1. Zur Einführung: Was macht die SPSH?
2. Erwerbslosigkeit als Risikofaktor für die psycho-soziale Gesundheit
3. Das Beratungskonzept der SPSH
4. Zum Beispiel: Umgang mit der Zeit - Beeinträchtigungen und Perspektiven

 

  1. Zur Einführung: Was macht die SPSH?
  Die SPSH existiert seit 1987. Zwölf arbeitslose PsychologInnen, SozialarbeiterInnen und eine Handvoll Studierender setzten sich damals zusammen und machten ihren losen Arbeits-zusammenhang zu einem Verein. Das gemeinsame Anliegen war es, Leuten, die von Arbeitslosigkeit mit all den möglichen psychischen Auswirkungen betroffen sind, Unterstützung in Form von Hilfe zur Selbsthilfe zu geben.
Daß wir alle selber die Erfahrung der Arbeitslosigkeit gemacht hatten oder am Ende des Studiums geradewegs darauf zusteuerten, schien uns eine gute Basis: immerhin wußten wir, wovon wir redeten. Und nebenbei konnten einige von uns über ABM so sich einen Arbeitsplatz schaffen, und alle hatten die Möglichkeit, eigene Vorstellungen von sinnvoller psychosozialer Arbeit in die Praxis umzusetzen.
Heute arbeiten wir seit über 10 Jahren im Schanzenviertel, 1992 übernahm die Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Stadt Hamburg die Finanzierung, 1997 wurde der Etat aus Spargründen um 40% gekürzt, sodaß die Beratungsstelle einen hohen Eigenanteil über Spenden aufbringen muß. Im Moment sind drei PsychologInnen in der Beratungsstelle teilzeitbeschäftigt, eine weitere wird über SAM finanziert; dazu kommen etwa 15 ehrenamtliche BeraterInnen.
Die Beratungsstelle der SPSH e.V. betreut Menschen, die durch Arbeitslosigkeit bzw. materielle Not in psychische Krisensituationen geraten sind: Erwerbslose, Sozialhilfe-empfängerInnen, Geringverdienende - die gerade im Schanzenviertel mit höchster Prozentrate in Hamburg vertreten sind.

Schwerpunkte des Angebotes sind:
  • psychosoziale Einzelberatung,
  • Krisenintervention,
  • Informationsvermittlung (per Telefon und im wöchentlichen Infotreffen) und
  • Gruppenarbeit, wobei sowohl angeleitete Gruppen zum Thema 'berufliche Orientierung' stattfinden, als auch Selbsthilfegruppen die Räume nutzen.
Alle Angebote sind selbstverständlich kostenlos und vor allem vertraulich. Einzelberatungen erfolgen nach (telefonischer) Terminabsprache, sonstige bürokratische Vorgaben gibt es nicht. Zum Anfang

 

  2. Erwerbslosigkeit als Risikofaktor für die psycho-soziale Gesundheit
  Wenn wir uns speziell an solche Arbeitslose richten, die in psychische Krisen geraten sind, so heißt das nicht, daß wir generell behaupten, Erwerbslosigkeit mache (psychisch)krank.
Richtig ist vielmehr, daß die objektive Situation, in der sich Erwerbslose heutzutage gesellschaftlich befinden, psychosoziale Risikofaktoren mit sich bringt, zu denen sich alle in der ein oder anderen Weise verhalten müssen. Abgesehen von den massiven finanziellen Einschränkungen, die oftmals die Existenz an sich bedrohen (Beispiel Wohnungsverlust), sind es folgende Faktoren, die die psychosoziale Gesundheit in der Erwerbslosigkeit gefährden:

- Verlust von Perspektiven
Wo objektive Perspektiven beschränkt sind, wird es zu einer schwierigen Aufgabe, eigene Wünsche und Perspektiven im Auge zu behalten, den Glauben an die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten nicht zu verlieren. Angst beeinträchtigt die Zuversicht.

- Existentielle Bedrohung und Abhängigkeit:
Wer erwerbslos ist, ist auf die Entscheidungen anderer (Personalchefs, Arbeits- und Sozialamt, mittelbar auch politische Entscheidungsträger) existentiell angewiesen, ohne die eigenen Mitbestimmungsmöglichkeiten genau definieren zu können. Diese Erfahrung fördert Gefühle der Ohnmacht und Resignation

- Ausgrenzung und Stigmatisierung
Erwerbslose müssen sich mit dem Bild der öffentlichkeit auseinandersetzen, das immer noch von Stigmatisierungen geprägt ist. Geht es ihnen in ihrer Situation noch ganz gut, stehen sie im Verdacht, auf Kosten des Sozialstaates sich ein feines Leben zu machen, geht es ihnen schlecht, erscheinen sie leicht als Versager ('kein Wunder, daß der so keine Arbeit findet!'). Das eigene Selbstwertgefühl steht auf dem Spiel.

- Isolation
Sich nicht isolieren zu lassen, sondern Kontakte zu halten, Beziehungen zu erhalten und neue aufzubauen (z.B. innerhalb einer Selbsthilfegruppe), ist ebenfalls eine schwierige Aufgabe: Berufliche Kontakte fallen weg, private Beziehungen können unter dem Druck der Erwerbslosigkeit leiden, und außerdem fehlt für viele soziale und kulturelle Aktivitäten das Geld.

- Verlust der Tagesstruktur
Die übliche Einteilung in Arbeitszeit und Freizeit fällt weg. Es wird oft zu einer Anstrengung, den Tag sinnvoll zu gestalten (siehe unten).

Wie die einzelnen mit diesen Risikofaktoren zurechtkommen, hängt von vielen Dingen ab, z.B. von ihrer ökonomischen Ausgangssituation, von ihrer Geschichte, von ihrer sozialen Eingebundenheit. Aber alle sind mit diesen Risikofaktoren konfrontiert. Arbeitslosigkeit erzeugt so keine vorhersagbaren Krankheitsverläufe, sondern individuelle, leider oft krisenhafte Lebenssituationen. Und noch eine Anmerkungen: Die Risikofaktoren in der Arbeitslosigkeit zeigen deutlich, daß es nicht nur die Abwesenheit von Erwerbsarbeit ist, die beeinträchtigt, sondern in ebensolchem Maße auch die Art und Weise, wie Menschen, die keine Arbeit haben, von anderen, und eben auch von den für sie zuständigen staatlichen Institutionen, behandelt werden. Hier gibt es im Sinne von sozialer Gerechtigkeit noch großen politischen Handlungsbedarf. Zum Anfang

 

  3. Das Beratungskonzeot der SPSH:
Entwicklung selbstbestimmter Perspektiven oder 'Arbeit ist wichtig, Leben auch.'


  Die Lage ist also paradox: Die Situation der Arbeitslosigkeit erfordert die Entwicklung eigener Perspektiven, welche aber gerade durch die Arbeitslosigkeit massiv eingeschränkt sind. Das, was ich am nötigsten brauche, um handlungsfähig zu bleiben, habe ich nicht: eine gesicherte Zukunft.
Diesen paradoxen Zirkel zu durchbrechen, ist vordringliche Aufgabe professioneller Unterstützung, ist das Leitmotiv der Arbeit der SPSH. Dazu muß das Recht der einzelnen auf Selbstbetimmung ernst genommen werden. Das heißt konkret:
wir müssen sowohl berufliche Perspektiven thematisieren als auch das Recht auf menschenwürdige Behandlung in der Zeit der Arbeitslosigkeit.
Denn wenn auch die Zeit der Arbeitslosigkeit im Lebenslauf als Lücke erscheint, die 'peinlich' ist und am besten irgendwie wegdefiniert werden muß, sie bleibt doch für jedeN von uns Zeit unseres - einzigen - Lebens. Und auch diese müssen wir gestalten.
Nur wer sich hier Gestaltungsmöglichkeiten schafft und erhält, schafft und erhält sich auch die persönlichen Vorausetzungen für die Wiedereingliederung ins Arbeitsleben.
Das Leitmotiv 'Arbeit ist wichtig, Leben auch' hat sich so in unserer praktischen Arbeit als grundlegend erwiesen. Zum Anfang

 

  4. Zum Beispiel: Umgang mit der Zeit - Beeinträchtigungen und Perspektiven
  Ein häufiges Problem, das wir aus Erfahrung kennen, ist, daß viele Erwerbslose sich nach einiger Zeit der Erwerbslosigkeit selbst nicht wiedererkennen:
Obwohl sie doch nun soviel Zeit haben, 'kommen sie zu nichts'. Scheinbar vertrödeln sie die Tage, der Abwasch bleibt genauso liegen wie die Post (zumindest oft), die Zeit verrinnt, ohne sinnvolle Beschäftigung und ohne daß das Nichts-Tun ein Genuß wäre. Im Gegenteil: schlechtes Gewissen und Selbstvorwürfe begleiten die Menschen. Sie mögen sich selbst nicht, und trotzdem ändert sich nichts.
Wie läßt sich das verstehen?
Ich will hier eine - unvollständige - Auswahl von typischen psychologischen Mechanismen vorstellen, die dies ansatzweise verständlich machen können. Denn nur wenn wir anfangen, uns selbst verstehen zu lernen, können wir auch Ansatzpunkte zur Veränderung finden.
Vielleicht können wir darüber in die Diskussion kommen.

1. 'Arbeit hat Vorrang'
Einen Volkshochschulkurs anfangen, etwas lernen, wozu bisher niemals Zeit war, Veranstaltungen besuchen, regelmäßig Sport machen, Selbsthilfegruppen besuchen ... lohnt sich das, wenn ich mich gar nicht richtig darauf einlassen kann, wenn die Arbeitslosigkeit doch nur vorübergehend ist (sein soll), wenn ich vielleicht in zwei Wochen schon wieder keine Zeit habe? Finde ich mich, wenn ich es tue, nicht ab mit der Arbeitslosigkeit? Manche Menschen hindern solche überlegungen daran, etwas neues zu beginnen. Die Zeit ist für Arbeit reserviert, auch wenn gar keine Arbeit da ist - 'Arbeit' hat Vorrang.
Aber: es lohnt sich immer: man kann schließlich auch wieder damit aufhören.
Hinzukommt: wenn ich mir andere Aktivitäten verbiete, weil ich doch eigentlich arbeiten müßte, zumindest aber Arbeit suchen, und wenn ich aber gleichzeitig keine Erwerbsarbeit habe, so werde ich am Ende des Tages 'nichts' getan haben. Wenn ich so tagelang 'nichts' getan habe, wird die Erfahrung mir gezeigt haben, daß ich auch zu nichts in der Lage bin. So kann ein Teufelskreis entstehen, in dem mir Aktivität, Lebensfreude, Selbstbestätigung immer mehr abhanden kommt.

2. 'Wer nicht arbeitet, darf es sich auch nicht gutgehen lassen':
Verliert man nicht die Motivation und die Disziplin, zu arbeiten, sogar, um Arbeit zu suchen, wenn man es sich zu gut gehen läßt ohne Arbeit? Gewöhnt man sich nicht zu sehr ans Nicht-Arbeiten?
Diskriminierende Aussagen über Langzeitarbeitslose, die deren angebliche Bequemlichkeit und mangelnde Selbstdisziplin anprangern, unterstützen solche fatalen Selbsteinschätzungen.
Die mangelnde Aktivität erscheint geradezu als (Selbst-)bestrafung für die nicht vorhandene Erwerbsarbeit, getreu dem Motto: wer nicht arbeitet, darf es sich auch nicht gutgehen lassen.
Das Gegenteil ist richtig: Alles, was Aktivität, Freude, Kontakte erhält, ist sinnvoll, besonders in der Arbeitslosigkeit, denn nur dann erhält man sich Motivation, Zuversicht und Selbstvertrauen.

3. Erzwungene Motiviation und aufoktroyierte Niederlagen: rechtlich verordnete Sinnlosigkeit
'Mitwirkungspflicht' und 'Eigeninitiative' sind wesentliche Bestandteile des Sozialgesetzbuch III, welches das AFG abgelöst hat, und dessen Abkürzung SGB III VertreterInnen von Erwerbsloseninitiativen nicht ganz zu unrecht mit 'Strafgesetzbuch für Arbeitslose' übersetzen. Heute werden Erwerbslosen und SozialhilfeempfängerInnen gezwungen, Bewerbungen nachzuweisen, um ihre Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe nicht zu verlieren, selbst wenn die Absagen vorprogrammiert sind.
Dieses Vorgehen unterstellt:
- erstens, daß Arbeitslose von sich aus keine Arbeit suchen würden
- zweitens, daß es genügend Arbeitsplätze gibt, auf die sich 'anspruchsvolle' Arbeitslose nur nicht bewerben
- drittens, daß es immer sinnvoll ist, sich zu bewerben, ob eine Aussicht auf Erfolg besteht oder nicht.
Alles diese Unterstellungen sind falsch und beeinträchtigen wirkliche Motivation. Wer sich selbst bemüht, und wem gleichzeitig unterstellt wird, er täte es nicht, weil seine Bemühungen nicht erfolgreich sind, verliert Motivation. Wer sich durch Absagen auf sinnlose Bewerbungen unnötige Niederlagen beschert, verliert die Hoffnung.
Die Hoffnungslosigkeit aber ist es, die für das deprimierende Gefühl der Sinnlosigkeit sorgt, das Menschen antriebslos und desinteressiert macht.

Sinn hat die Arbeitssuche nur, wenn sie an eigenen Fähigkeiten, Stärken und Interessen anknüpfen kann. Sich auf diese zu besinnen, mit oder ohne professionelle Unterstützung (der nächste Beitrag stellt mit dem Club der Arbeitssuchenden eine weitere Möglichkeit vor), ist der einzig sinnvolle Weg, der außerdem das Selbstvertrauen stärkt und somit psychisches Wohlbefinden, ob mit oder ohne Arbeit, erhalten hilft. zum Anfang

 

zur Materialienseite

zur Homepage