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Beitrag zum Kongress der DGVT 1995 in Berlin
von Heike Frederking

Die Nutzbarkeit der Kritischen Psychologie nach Holzkamp und der Diskursanalyse nach Foucault als analytische Arbeitsmittel
Konzeptionelle Grundsätze der psychosozialen Beratung mit Erwerbslosen am Beispiel der Solidarischen Psychosozialen Hilfe Hamburg e. V.

 

 

  1. Einleitung
  2. Typische Befindlichkeitsphänomene in der Situation der Erwerbslosigkeit und kritisch-psychologische Erklärungsmöglichkeiten
  3. Einführung zum Begriff der Macht und des Diskurses bei Foucault
  4. Selbstbefähigung, Subjektorientierung, Mitbestimmung der Ratsuchenden und Transparenz der BeraterInnen in der asymmetrischen Hilfsbeziehung
  5. Unterstützungsmöglichkeiten durch die Beratung und die Darstellung einer möglichen Beratungsstruktur
  6. Reflexion der Nutzbarkeit diskursanalytischer Aspekte für die psychosoziale Beratung mit Erwerbslosen
  7. Literatur


  1. Einleitung
 
'Ich bin seit 1 1/2 Jahren arbeitslos und habe mich in dieser Zeit auf ca 20 Stellen erfolglos beworben. Ich kann seit einiger Zeit nicht mehr richtig schlafen und es geht mir schlecht. Der Arzt hat aber nichts gefunden. Ich schaffe nicht die Sachen, die ich mir vornehme, vor allem die Bewerbungen, aber auch das Aufstehen und den Haushalt nicht. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich zu faul bin, aber das hilft nichts. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Dabei habe ich doch eigentlich soviel Zeit. Jetzt hat mir das Arbeitsamt eine Umschulung vorgeschlagen, die ich aber nicht so gut finde, ich weiß auch gar nicht, ob ich das noch schaffe. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll! Mit meinen FreundInnen mag ich mich auch nicht mehr so gern treffen, weil ich gar nichts mehr zu erzählen habe und es peinlich finde, wenn ich von Ihnen eingeladen werde, weil ich so wenig Geld habe und oft den ganzen Abend mit einem Bier auszukommen versuche.'
Die obige Darstellung ist fiktiv aber zugleich relativ typisch für die Problematiken, die in den ersten Beratungsstunden in der Beratungsstelle Solidarische Psychosoziale Hilfe (SPSH) von Erwerbslosen berichtet werden.
Die Solidarische Psychosoziale Hilfe (SPSH) ist eine Beratungsstelle für Erwerbslose, SozialhilfeempfängerInnen und Menschen mit geringem Einkommen. Sie wurde 1987 vom gleichnamigen als gemeinnützig anerkannten Trägerverein (als Selbsthilfeprojekt) mit ABM-Mitteln gegründet und wird seit 1992 durch Zuwendungen der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales finanziert.
Die Beratungsstelle bietet Dienstleistungen in folgenden drei Bereichen an:
  • 1. Einzelberatungen
  • 2. Gruppenangebote
  • 3. Informationsvergabe (Telefondienste und offener Treff)
Alle Angebote sind kostenlos. Das ist eine Bedingung, die für die angesprochene Zielgruppe, Menschen mit geringem Einkommen, ein wichtiges Zugangskriterium ist.

Anders als bei der Bezeichnung 'psychosoziale Beratungsstelle' zumeist erwartet wird, sind die Inhalte der Beratung nicht nur auf sozialrechtliche Fragestellungen, sondern auf die gesamte Lebenssituation der Ratsuchenden, ihre emotionale Befindlichkeit und die Bewältigung von schwierigen Lebenslagen, ausgerichtet.

Die Menschen, die die Beratungsstelle aufsuchen, haben die Möglichkeit über einen längeren Zeitraum regelmäßige Beratungstermine wahrzunehmen. Das heißt, Ratsuchende können die Beratungstunden je nach Absprache im wöchentlichen, vierzehntägigen oder monatlichen Turnus) solange in Anspruch nehmen, wie es allen Beteiligten als sinnvoll erscheint, (Der statistische Durchschnittswert ist pro Ratsuchende zehn bis fünfzehn Sitzungen, bei einer Streuung von einer bis zu hundertfünfzig Sitzungen).

Der Veranstaltungsrahmen gleicht einem therapeutischen Setting, wenngleich ein Unterschied in der inhaltlichen Bestimmung der Beratungsarbeit gegenüber der Therapie besteht. Die SPSH formuliert die Differenz bezüglich ihrer Beratungsarbeit dergestalt, daß Therapie an der Behandlung psychischer Krankheitssymptome orientiert ist, während psychosoziale Beratung im Selbstverständnis der SPSH lebensweltorientiert auf eine subjektiv verbesserte bzw. erweiterte Handlungsfähigkeit ausgerichtet ist. Diese Unterscheidung kann mit recht als akademisch bezeichnet werden, insofern sie der gegenwärtigen Praxis vieler TherapeutInnen sicherlich nicht gerecht wird. Dennoch ist diese Abgrenzung bedeutsam, sowohl als Anregung für die Diskussion daran geknüpfter standes- und sozialpolitischer Positionen der Sozialwissenschaften und Medizin, die immer noch aktuell sind, wie auch für das hier verfolgte Anliegen, die Beratungsarbeit der SPSH zu vereindeutigen.

Ich selbst bin Mitarbeiterin und Mitbegründerin der SPSH. Was mich veranlasst über die Arbeit der SPSH zu schreiben, ist zum einen die Einschätzung, daß in der SPSH einige interessante konzeptionelle Grundsätze und Arbeitsweisen für die Beratungsarbeit mit Erwerbslosen entwickelt worden sind und angewendet werden, die ich auf diesem Wege zur Diskussion stellen möchte.

Eines unter anderen hilfreichen theoretischen Handwerkszeugen für die Reflexion der Thematik Erwerbslosigkeit (und nicht nur dieses Themas) in der Beratungsarbeit in der SPSH ist das psychologische Kategoriensystem der Kritischen Psychologie nach Holzkamp. Die Stärke des kritisch-psychologischen Begriffssystems besteht darin, daß die gesellschaftliche Vermittlung subjektiver psychischer Befindlichkeit zu fassen gelungen ist und individuelle Handlungsfähigkeit als deren zentrale Größe auf der subjektiven Ebene bestimmt ist. Ich werde im nachfolgenden Abschnitt mittels eines Schaubildes aus dem Konzept der SPSH zu den psychosozialen Auswirkungen von Erwerbslosigkeit erläutern, welche Belastungen für die Betroffenen auftreten können und wie sich typische Befindlichkeitsphänomene mittels kritisch-psychologischer Begriffe analytisch aufschließen und damit erklären lassen.

Ein anderer zentraler Punkt der internen SPSH-Diskussionen war und ist das durch ExpertInnenmacht begründete asymetrische Machtverhältnis im Beratungssetting und die Suche nach einem verantwortungsbewußten Umgang seitens der BeraterInnen damit. Mit dieser Suche begibt man sich in das widersprüchliche Spannungsfeld politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Aspekte der Funktion von psychosozialer Beratungsarbeit. Eine Anregung für die Diskussion von Machtfragen bietet Foucaults Werk.

Ich werde die Resultate der Auseinandersetzungen um das Machtverhältnis im Beratungssetting, die als konzeptionelle Grundsätze der SPSH-Beratungsarbeit mit den Begriffen 'Subjektorientierung', 'Transparenz' und 'Mitverantwortlichkeit der Ratsuchenden' bezeichnet und firmiert worden sind, ausführlicher erläutern und mit Bezug auf Foucaults Ausarbeitungen reflektieren.

Zur Veranschaulichung des beraterischen Vorgehens bezogen auf die oben ausgeführten Aspekte werde ich einen konstruierten Möglichkeitstyp für eine Beratungsstruktur darstellen und die Nutzbarkeit kritisch-psychologischer Analysebegriffe für die Beratungsarbeit zu verdeutlichen versuchen.

Im letzten Teil dieses Beitrags möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit Foucaults diskursanalytisches Vorgehen nicht nur auf der Ebene der Reflexion, sondern auch methodisch für die Beratungsarbeit hilfreich sein könnte.
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  2. Typische Befindlichkeitsphänomene in der Situation der Erwerbslosigkeit und kritisch-psychologische Erklärungsmöglichkeiten
 
Ich möchte das Eingangsbeispiel der erwerbslosen Frau in Erinnerung rufen. Die SPSH BeraterInnen erleben relativ häufig das Phänomen, daß die erwerbslosen Menschen in den ersten Beratungssitzungen darüber berichten, daß sie sich selbst, ihre Verhaltensweisen und ihr Befinden nicht mehr verstehen. Sie beschreiben sich als lethargisch, faul, nutzlos, depressiv. Zumeist kennen sich die Betroffenen aus dem Berufsleben oder anderen (nichtbezahlten) Arbeitsprojekten als zuverlässig und engagiert und sind verständnislos darüber, daß ihnen nun, da sie erwerbslos sind und eigentlich viel mehr Zeit haben, Vorhaben nicht gelingen oder erst nach mehreren Anläufen und langer Zeit. Dabei kann es sich sowohl um relativ kleine Angelegenheiten, zum Beispiel Essen kochen, wie auch um größere Vorhaben, zum Beispiel Bewerbungen schreiben, handeln. Häufig wird auch geschildert, daß Treffen mit FreundInnen oder Bekannten abnehmen.

Neben den existenziellen Sorgen und Ängsten, leiden die Betroffenen unter geringen Selbstwertgefühlen und es beschäftigt sie nicht selten die Frage, ob sie nun eventuell unnormal, verrückt, psychisch krank geworden sind.

Diese Selbstwahrnehmung bzw. -bewertung der Betroffenen korrespondiert mit dem immer erneut in der Öffentlichkeit gezeichneten Bild, daß Langzeitarbeitslose möglicherweise die soziale Hängematte ausnutzen und eventuell gar nicht arbeiten wollen. Eine Form der Stigmatisierung von Erwerbslosen funktioniert in der hiesigen auf (Arbeits-) Leistung ausgerichteten Gesellschaft durch Unterstellungen von Faulheit oder Untüchtigkeit und Denkweisen wie 'Wer wirklich will, der findet auch Arbeit'. Solche Verdächtigungen an die Gruppe der Betroffenen sind auch ideologisch funktional für die zur Zeit herrschenden Sparvorhaben im sozialen Bereich gerade bei den Sozialhilfe-, Arbeitslosengeld- und ArbeitslosenhilfeempfängerInnen. Und obwohl die Gründe für die abnehmende Zahl von Arbeitsplätzen in der Öffentlichkeit der wirtschaftlichen und politischen Krise zugesprochen werden, findet gleichzeitig diese individuelle Schuldzuschreibung und Diskriminierung fruchtbaren Boden. Untersuchungen deren Ergebnisse die Rede von der Ausnutzung der sozialen Hängematten widerlegen, wie in der Frankfurter Rundschau im Februar diesen Jahres veröffentlicht wurde, finden wenig Beachtung (FR, Jg 52, Nr 50,/9, 28.2.96, S.1).

Die obige Beschreibung der Situation der Erwerbslosen scheint die Vorurteile der Faulheit geradezu zu bestätigen. Gerade deshalb ist wichtig zu betonen und zu verdeutlichen, daß die Gründe der beschriebenen Gelähmtheitszustände keineswegs in der 'Untüchtigkeit' der Betroffenen zu suchen sind, sondern in deren existentiellen Ängsten und den bedrohlichen Bedingungen ihrer Lebenssituation. Diese psychologische Zusammenhangsannahme zwischen existentiellen Ängsten und deren Auswirkungen, bzw. Erscheinungsformen in Gestalt von Depressionen, Motivationsverlust und Gefühlen von Gelähmtheit, soll im folgenden durch differenziertere Betrachtung der typischen Veränderungen, die die Situation der Erwerbslosigkeit für die Betroffenen mit sich bringt, weiter ausgeführt werden. Die folgenden Ausführungen haben den Charakter eines psychologischen Erklärungsmodells, das zugleich Grundlage für eine verständnisvolle, nicht verurteilende Grundhaltung der BeraterInnen gegenüber Erwerbslosen ist, wie es auch für die Betroffenen als psychologisches Basiswissen zum eigenen Selbstverständnis im Zusammenhang mit ihrer Lebensituationan dient. Ich werde das der SPSH-Beratungsarbeit zugrundeliegende Erklärungswissen zunächst mittels einem dem SPSH-Konzept entnommenen Schaubild über typische psychosoziale Folgen der Erwerbslosigkeit differenzieren. In der Darstellung auf der folgenden Seite sind Ergebnisse der einschlägigen Untersuchungen zu den psychosozialen Auswirkungen der Erwerbslosigkeit aufgenommen (vgl. Kieselbach & Wacker 1985).

Das Schaubild zeigt im oberen Teil zum einen die objektiven Bedingungen, die mit der Situation der Erwerbslosigkeit verknüpft sind, zum anderen die daraus resultierenden subjektiven Befindlichkeiten. Die Begriffe 'subjektiv' und 'objektiv' werden hier nicht traditionell wissenschaftlich auf die Messbarkeit bezogen als objektiv im Sinne von neutral und messbar versus subjektiv im Sinne nichtneutral und unüberprüfbar gebraucht. Vielmehr bezeichnet die objektive Ebene die gesellschaftlich- strukturell bedingten Einschränkungen der Situation Erwerbslosigkeit und die subjektive Ebene, eine nahegelegte und damit verknüpfte gesellschaftlich vermittelte psychische Befindlichkeitsmöglichkeit.

Im mittleren Teil der Abbildung werden die mit zunehmender Dauer der Erwerbslosigkeit verknüpften Gefahren einer steigenden psychischen und psychosomatischen Krankheitsanfälligkeit und sich reduzierenden Arbeitsfähigkeit der Betroffenen benannt.

Im unteren Teil des Schaubildes werden die gravierendsten Folgen einerseits für die psychische Befindlichkeit der Betroffenen andererseits für die Gesellschaft im volkswirtschaftlichen Sinne aufgezeigt.

Einer solchen Argumentation kann vorgeworfen werden, daß sie zur Stigmatisierung von Erwerbslosen beiträgt, diesmal in die Richtung der (Psycho-) Pathologisierung. Diesem Widerspruch können sämtliche Personen, die mit psychosozialer Arbeit ihre Existenz sichern (wollen), nicht entrinnen. Um Mißverständnisse zu vermeiden: es soll nicht behauptet werden, daß alle Erwerbslosen zwangsläufig psychisch oder psychosomatisch erkranken werden und psychosoziale Beratung benötigen, sondern daß die Situation der Erwerbslosigkeit so starke materielle und psychische Belastungen bedeuten kann, daß die Gefahr einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit besteht. Diese Aussage impliziert zudem eine Entgegenung auf die Personalisierung von gesellschaftlichen Problematiken, wie Schuldzuschreibung an Erwerbslose und der Verdächtigung auf Faulheit.

Ein kritisch-psychologisches Erklärungsmodell

Im Zusammenhang mit diesem Erklärungsmodell für psychosoziale Auswirkungen der Erwerbslosigkeit werde ich zugleich die Nutzbarkeit der Kritischen Psychologie verdeutlichen. Wie bereits erwähnt wird in der SPSH unter anderem mit dem theoretischen Handwerkszeug der Kritischen Psychologie nach Holzkamp und anderen VertreterInnen gearbeitet. Das Kritisch-psychologische Begriffssystem hat für die Beratungsarbeit die Funktion eines Analysemittel zur Reflexion der Beratungsarbeit und der beraterischen Hypothesenbildung.

Die Stärke des kritisch-psychologischen Kategoriesystems liegt darin, daß das Verhältnis Individuum-Gesellschaft gefasst wird und damit ein größeres Erklärungspotential für die psychosoziale Problematik von Erwerbslosigkeit entfaltet, als die traditionelle Variablenwissenschaft es zu bieten vermag.

Um erklären zu können, warum die Situation der Erwerbslosigkeit bestimmte wie oben ausgeführte psychische Phänomene hervorrufen kann, ist ein Verständnis von den möglichen subjektiven Bedeutungen der gesellschaftlich bedingten Lebenssituation Erwerbslosigkeit vonnöten.

In der Kritischen Psychologie ist die zentrale Kategorie auf der subjektiven Ebene die '(restriktive vs. verallgemeinerte) Handlungsfähigkeit'. Der Begriff 'Handlungsfähigkeit' impliziert die Vermittlung zwischen subjektiver Befindlichkeit eines Individuums und den in seiner jeweiligen Lebenssituation unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen bestehenden Handlungsmöglichkeiten. Von den gesellschaftlich gegebenen Handlungsmöglichkeiten und deren subjektive Wahrnehmung hängt damit auch die psychische Befindlichkeit, also die emotionalen, kognitiven und motivationalen Aspekte der Handlungsfähigkeit eines Individuums ab.

Die Verfügung über die Bedingungen zur individuellen Existenzsicherung bedeutet die Möglichkeit relativer Lebensqualität im Sinne von Angstfreiheit.

Die Begriffe 'restriktiv versus verallgemeinert' sind als analytisch entgegengesetzte Pole zu verstehen und beziehen sich auf den Grad der Verfügung, die Mitbestimmungsmöglichkeiten, die den Einzelnen einer bestimmten Gesellschaftsform über ihre Lebensbedingungen oder Lebensumstände potentiell gegeben sind. Die Handlungsmöglichkeiten eines Individuums werden nicht als von gesellschaftlichen Bedingungen determinierte Größe begriffen, insofern jeder Mensch sich zu seinen Lebensbedingungen bewußt Verhalten kann. Das Verhältnis zwischen einzelnen und Lebensbedingungen wird also als Möglichkeitsbeziehung charakterisiert.Welche der Alternativen oder Möglichkeiten von einem Individuum wahrgenommen und gewählt werden können, hängt wiederum von seiner gesellschaftlichen Lage oder Position und seiner jeweiligen emotionalen, kognitiven, und motivationalen Befindlichkeit, in die auch seinen biografischen Erfahrungen einfließen, ab.

Einschränkungen der Handlungsmöglichkeiten durch Erwerbslosigkeit

Das Phänomen Erwerbslosigkeit bedeutet auf der gesellschaftlichen Ebene für die Betroffenen eine Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten. Sie sind von der Teilhabe am gesellschaftlichen Produktionsprozess ausgeschlossen und damit der Möglichkeit ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt für die Sicherung ihres Lebensunterhalts einzutauschen für unbestimmte Zeit entledigt. Ihre existenzielle Absicherung ist in Frage gestellt, sofern nicht andere Möglichkeiten der existenziellen Absicherung bestehen.

Die Einschränkung der Verfügung über die eigene Lebenssicherung muß existenzielle Ängste hervorrufen. Die im Schaubild genannten Aspekte der Situation Erwerbslosigkeit auf der objektiven gesellschaftlichen Ebene sind als strukturelle Veränderungen zu verstehen, zu denen sich die Betroffenen verhalten müssen. Erwerbslosigkeit bedeutet in der Regel finanzielle Einbußen. Weniger oder sehr wenig Geld zu haben, heißt gleichzeitig auch eine Einschränkung bestimmter Freizeitaktivitäten. Der Verlust des Arbeitsplatzes beinhaltet den Verlust einer sozialen Einbindung und der Möglichkeit direkter und indirekter sozialer Anerkennung. 'Das Individuum ist aus seinen Zwängen aber auch aus der Kooperation mit anderen, in der sein Beitrag gebraucht wird und zeitlich eingebunden ist, entlassen' (Ter-Nedden, 1986, S. 42)

Aspekte der Situation von Erwerbslosigkeit: Die Zeitfalle, Verlust der Tagesstruktur, Perspektivlosigkeit

Besonders gravierend und für Menschen, die noch nie längere Zeit erwerbslos waren, kaum nachfühlbar ist die Veränderung durch den Verlust der durch Arbeit in Beschlag genommenen Zeit und damit der Tagesstruktur. Diese Veränderung bedeutet die Auflösung der Einteilung von Freizeit und Arbeitszeit. Um Freizeit als solche überhaupt wahrnehmen und als Erholung von und Belohnung für Arbeitzeit genießen zu können, braucht es den Gegensatz Arbeitszeit vs. Freizeit. Corinna Ternedden geht in ihrem Aufsatz 'Zeithaben als Zeitverlust' soweit die Zeit der Erwerbslosen mit der von Gefängnisinsassen zu vergleichen. Deren Gemeinsamkeit sieht sie im Charakter einer Zwischenzeit, die vergehen soll, womit andererseits unwiederbringliche Lebenszeit hinweg und dem Ende herbeigewünscht wird. Für beide Gruppen stellt sich die Frage, ob und wieweit sie über das Ende der Sondersituation verfügen können. Ein Verlust dieser Lebenszeit ist die Zeit der Erwerbslosigkeit auch insofern sie mit zunehmender Dauer gegen die Betroffenen verwendet wird. Es verhält sich genau umgekehrt bei einer (beruflichen) Tätigkeit, bei der die Dauer der Ausübung als Qualifikationskriterium gereicht. Arbeitslosigkeit bringt zwei zeitbezogene Veränderungen: den Verlust der Tagesstruktur und in der Folge dann zusätzlich den Verlust der meist an Arbeit entlang ausgerichteten Zukunftsperspektive (vgl. Ter-Nedden, 1986).

Die unausgefüllte Zeit stellt an die Erwerbslosen die Anforderung, diese selbstständig strukturieren zu müssen ohne daß klar ist, über welchen Zeitraum sich diese Planung erstrecken kann. Die Perspektivlosigkeit befördert die Präsenz existenzieller Ängste und Gefühle des Ausgeliefertseins. In Bezug auf die Arbeitsplatzsuche besteht permanente Unklarheit darüber, wann genügend für das berufliche Fortkommen und die existenzielle Absicherung getan worden ist. Erst bei Wiedereinstellung ist der Erfolg, unabhängig vom Umfang der vorher geleisteten Bewerbungsbemühungen, deutlich.

Die auf der subjektiven Ebene beschriebenen Gefühlszustände sind zu verstehen als mit der Situation Erwerbslosigkeit nahe gelegte und typisch auftretende psychische Befindlichkeit der Betroffenen.
Im Schaubild werden genannt:
  • Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls
  • Schuld- und Versagensgefühle
  • Erfahrung der Ausgeliefertheit (Existenzängste)
  • Selbstisolation (oft auch aus Scham)
  • Gefühl der Perspektivlosigkeit
Das soll wie gesagt nicht heißen, daß jedeR Betroffene im gleichen Maße oder überhaupt unter der Erwerbslosigkeit leidet. Je nach der gesellschaftlichen Position, den individuellen Lebensbedingungen, wie finanzielle Absicherung, soziale Einbettung und biografischem Hintergrund wird dies anders gestaltet sein und werden auch die wahrnehmbaren Handlungsmöglichkeiten andere sein. Besonders wichtig für die subjektive Befindlichkeit ist die Einschätzung der Chancen auf eine existenzsichernde Perspektive. Wo diese fraglich ist, ist die Gefahr der hier benannten Befindlichkeiten bis hin zur psychischen Erkrankung erhöht. Dennoch wäre es verfehlt einen deterministischen Zusammenhang zu unterstellen. Das würde heißen, die Möglichkeit des bewußten Verhaltens zu den nahegelegten Bedeutungen und Handlungsmöglichkeiten und damit die Selbstverantwortlichkeit und wenn auch eingeschränkten subjektiven Entscheidungsmöglichkeiten der Betroffenen zu verleugnen.

Das Konzept der subjektiven Handlungsgründe

Wenn bisher von Einschränkungen der Handlungsfähigkeit durch die Situation der Erwerbslosigkeit gesprochen wurde, waren die gesellschaftlichen Bedeutungen der Erwerbstätigkeit bzw. Erwerbslosigkeit beschrieben

Diese gesellschaftlichen Bedeutungen gehen als Prämissen in die subjektiven Begründungen der Einzelnen für ihr jeweiliges Handeln ein. Dem Individuum ist völlig selbst überlassen, wie es sich zu den gegebenen gesellschaftlichen Bedeutungen als Handlungsmöglichkeiten verhält. Die Verantwortung für das Ergreifen oder Ausschlagen bestimmter Handlungsalternativen liegt in seiner Entscheidungsfreiheit und Verantwortung. Das gilt auch da, wo ein Subjekt seine Verantwortung deligiert, weil auch die Unterwerfung unter Zwang das Resultat einer verantwortlichen Entscheidung darstellt.

Allerdings ist die Wahl von Handlungsalternativen für das Subjekt selbst keineswegs beliebig oder gleichgültig. Es handelt stets und notwendigerweise im Einklang und im Interesse mit seinen eigenen Lebensinteressen und Bedürfnissen und in diesem Sinne subjektiv begründet. Hier wird in der Kritischen Psychologie das einzige Apriori, als Prämisse der materialen bzw. synthetischen Individualwissenschaft gesetzt, das darin besteht, daß niemand sich bewußt Schaden oder Leiden zufügen kann. Subjektiv begründete Handlungen sind demnach immer mit dem Ziel der Erhaltung / Erweiterung der Verfügung über die individuellen Lebensumstände, die Lebensqualität, Bedürfnisbefriedigung verknüpft. Die gesellschaftlichen Bedeutungskonstellationen gehen dabei als objektive Handlungsmöglichkeiten ,-beschränkungen in die Handlungsgründe ein. Die Handlungen sind durch ihre subjektive Begründetheit/Verständlichkeit in gewissem Sinne als `determiniert`zu betrachten, allerdings nicht von außen, sondern vom Standpunkt des Subjektes aus dessen genuinen Lebens- und Verfügungsinteressen (vgl. Holzkamp 1986).

Holzkamp erarbeitete für die wissenschaftliche Forschung zwei systematische Schritte:
  1. Die gesellschaftlichen Bedeutungsanalyse
  2. Die subjektive Begründungsanalyse
Forschung macht nur vor dem Hintergrund Sinn, daß für das Subjekt nicht von vorneherein òffensichtlich ist, welche Handlungsweise bei gegebenen Bedeutungskonstellationen aus seinen Lebens- und Verfügungsinteressen begründet ist. Wäre es, so bräuchte es keine Forschung. Das gleiche gilt für die Beratung und dieses analytische Vorgehen lässt sich auf die Beratungssituation übertragen.

Mit dem kritisch-psychologischen Konzept der subjektiven Begründungen kann man auch in der Beratung die Fragerichtung verfolgen, welche Handlungsmöglichkeiten subjektiv von den Betroffenen in ihrer Situation wahrgenommen werden und mit welchen subjektiven Begründungen sie sich für bestimmte Handlungsalternativen entscheiden.

Das schon beschriebene häufige Phänomen der depressiven Befindlichkeit in der Situation Erwerbslosigkeit ließe sich mit dem Konzept der subjektiven Handlungsbegründungen nach Handlungsgründen und Bedeutungen analytisch aufschliessen. Eine gesellschaftliche Bedeutungsform, die im Zusammenhang mit der Erscheinung von depressiven Stimmungen bei Erwerbslosen betrachtet werden könnte, ist die allgemeine Denkweise, die Situation der Erwerbslosigkeit als 'persönlich verschuldet' wahrzunehmen. Diese Personalisierung ist insofern ein nahegelegte gesellschaftliche Bedeutungsmöglichkeit, als sich in der unmittelbaren Lebenswelt der Konkurrenzkampf um Arbeitsplätze als unmittelbar personen- bzw. interaktionszentriert erfahren wird. Zwar hängt es von der Menge der Arbeitsplätze und der Anzahl der Bewerber/KonkurrentInnen ab, wie groß für die Einzelnen die Chancen sind, Arbeit zu finden, aber die Möglichkeit, die Chance wahrzunehmen oder zu scheitern, hängt wieder an der einzelnen Person. Mit einer solchen unmittelbarkeitsverhafteten personalisierenden Bedeutungs-Begründungszusammenhangsannahme allein blieben die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse und ihre Widersprüchlichkeiten außer acht. Die Bedeutung von Arbeitslosigkeit als permanente strukturelle Krisenerscheinung und ihre Funktion als Druckmittel auf die Beschäftigten u.s.w. wäre ausgeblendet. In den kritisch-psychologischen Analysebegriffen wird mit der Berücksichtigung der gesellschaftlichen Bedingungen der Erwerbslosigkeit kategorisch der Blick auf alternative Handlungsmöglichkeiten eröffnet, die des Handelns in Richtung der Schaffung von Verhältnissen unter denen Erfolg, persönliche Versorgung, Konkurrenz sozialer Beziehungen nicht die Daseinsbewältigung durchziehen. Dem Ergreifen dieser Handlungsmöglichkeit stehen aber auch gesellschaftliche Machtverhältnisse und Unterdrückungsmechanismen entgegen.

Die in Schuldgefühlen implizierten und nahegelegten personalisierenden Deutungsmuster können im Beratungsprozess analytisch auf verkürzende Denkweisen untersucht und das Wissens um gesellschaftlicher Vermittlung von psychischen Befindlichkeiten wie bei der Erwerbslosigkeit vermittelt werden, daß die Wahrnehmung von Handlungsalternativen im Interesse der Betroffenen ermöglicht wird.

Bei der Analyse von subjektiven Handlungsbegründungen im Beratungsprozess sind die darin implizierten Widersprüchlichkeiten, Verkürzungen, Verdrehungen von gesellschaftlicher Realität im Hinblick auf die Gewinnung neuer Handlungsperspektiven ein Ansatzpunkt. Damit stellt sich aber gleichzeitig die Frage nach den Kriterien für die Beurteilung, welche Denkweisen als Verkürzungen, Verdrehungen u.s.w. für die Wahrheitsfindung angelegt werden, ohne Gefahr zu laufen, gleichzeitig normativ zu sein.

Die Kritische Psychologie antwortet hier mit dem Konzept der subjektiven Handlungsbegründungen und der Analysekategorie der Handlungsfähigkeit mit der nach den jeweils subjektiven Lebensinteressen gefragt wird und nicht nach von außen gesetzten Maßstäben. Die Frage nach Wirkungsweisen von Macht und Manipulation im Beratungssetting ist damit aber nicht beantwortet und ich möchte Foucaults Diskurbegriff zur Reflexion heranziehen.
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  3. Einführung zum Begriff der Macht und des Diskurses bei Foucault
 
Zum Begriff der Macht
Foucault hat sich in seinen Werken mit Fragen nach der Gestaltung von Kräfteverhältnissen und Machtkonfigurationen in bestimmten Gegenstandsbereichen wie die Geschichte der Medizin, des Gefängnisses, der Sexualität und der Psychiatrie auseinandergesetzt. Es ging ihm darum zu zeigen, daß Macht anders funktioniert als bisher gedacht und sichtbar zu machen wie Machtkonfigurationen funktionieren.

Der Machtbegriff bei Foucault läßt sich folgendermaßen umreißen: Macht bildet sich nicht vom individuellen oder kollektiven Willen und ist auch nicht von Interessen abgeleitet, sondern errichtet sich auf Vielfältigkeiten von diskursiven Elementen von Machtfragen und Wirkungen. Sein Machtbegriff ist nicht abgeleitet von Organisationen, Staatsmacht oder Gesetzen. Macht funktioniert nicht allein von oben nach unten. Seine Konzeption kommt ohne begründende Subjekte aus. Macht konstituiert sich über Benennung, Sichtbarmachung, Katalogisierung und Ettikettierung.

Machtverhältnisse sind allgegenwärtig und ziehen sich durch alle Bereiche. Die Macht konstituiert sich gerade dadurch, daß sie nicht nur negativ versagend erscheint, sondern in ihrer Wirkung reichhaltig, produktiv und fruchtbar ist und gerade durch Kontrolle, Reglementierung und Verbot zur kreativen Entstehung immer neuer Diskurse und Gegenstandsbereiche beiträgt (vgl. Foucault 1974).

Zum Begriff des Diskurses
Der von Foucault geschaffene Begriff des 'Diskurses' (lat.: Herumlaufen) bezeichnet nicht nur sprachliche Äußerungen in ihrer größtmöglichen Allgemeinheit, sondern auch einzelne Sprachäußerungen und bestimmten Regeln unterliegende Sprachverwendungen. Der Diskurs ist jenes unendliche Gerede in das menschliches Handeln verwoben ist. Der Diskurs ist als eine anonyme gesellschaftsspezifische Organisationsform des Wissens, vor allem in Verbindung mit bestimmten Gegenstandsbereichen und mit Blick auf ihre Verwendbarkeit bei der Ausübung von Macht zu begreifen. Diskurs ist aber weder Ausdruck eines Subjektes, noch Appell an ein anderes Subjekt, noch die Bezeichnung eines Sachverhaltes. Der Diskurs ist zugleich Ort und Objekt vermittels dessen Machtkämpfe geschehen. Machtstrukturen und Reglementierungen des Diskurses bleiben unsichtbar gerade über die vornehmlichen Inhalte, das moralische, philosophische oder wissenschaftliche Gedankengut des Abendlandes. Als Treibkraft der Reglementierungsbemühungen und menschlichen Ordnungsstrebens sieht Foucault eine 'Logophobie', die hinter der phänomenologischen 'Logophilie', einer positiven Bewertung der Vielfalt, des Reichtums und der Kreativität der Wissensproduktion steht. Diese Angst beziehe sich auf die Wucherung des Diskurses, von der Gefahr ausgeht und die dem menschlichen Ordnungsbestreben entgegensteht. Die Angst davor sieht Foucault als Motor für die vielfältigen Instanzen der Kanalisierung, der Selektierung, der Organisation und der Kontrolle des Diskurses (vgl. Foucault 1974).

Für die Reflexion von Machtausübung im Beratungssetting lassen sich die verschiedenen von Foucault herausgearbeiteten Ordnungsproceduren der Diskurse nennen.

Diskurse der Beratung und/ oder Therapie werden über ihre philosophischen und wissenschaftlichen Inhalte mit der Bestimmung dessen, was als wahr oder falsch, vernünftig oder wahnsinnig anzusehen ist, geregelt und diszipliniert. Zusätzlich wird das Beratungs-oder Therapiesetting von als Proceduren zur Verknappung der Subjekte beschriebenen 'Ritualen des Sprechens' bestimmt. Damit ist die Rollenzuweisung oder mit anderen Worten die Definition von Qualifikation, welche die sprechenden Subjekte besitzen müssen und die Positionen die sie einnehmen müssen, gemeint.

Den BeraterInnen kommt die Position der qualifizierten ExpertInnen und der Fragenden zu, dergegenüber die Ratsuchenden die Position der Hilfe- und Ratsuchenden und der Zuhinterfragenden einzunehmen haben. Die Hilfe der Expertinnen wird den Ratsuchenden mittels beraterisch- therapeutischer und diagnostischer Diskursinhalte in Form von Orientierung über das Wahre oder Falsche oder das Vernünftige oder Wahnsinnige erteilt. Da die Qualifikation für die Beurteilung und Orientierung nur den Expertinnen per Position und Ausbildung zugesprochen und ermöglicht wird, kann das Urteil und die Qualifikation der Ratsuchenden notwendigerweise nur wenig gelten. Das bedeutet für die Ratsuchenden eine zweifache Unterwerfung unter die beraterische Macht, der des Settings und der der Inhalte, ohne dabei Kriterien für eine Überprüfung und Kontrolle dessen, was als qualitativ gute oder kompetente Arbeit gelten könnte in der Hand zu haben, um sich vor Machtmißbrauch zu schützen.

Eine spannende Frage ist, ob und wie ein sinnvoller Umgang damit möglich ist und ob Perspektiven der Veränderung im asymmetrischen Hilfsbeziehungen denkbar sind.
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  4. Selbstbefähigung, Subjektorientierung, Mitbestimmung der Ratsuchenden und Transparenz der BeraterInnen in der asymmetrischen Hilfsbeziehung
 
In Hinblick auf die Frage nach einem sinnvollen Umgang mit ExpertInnenmacht, ohne behaupten zu wollen, daß das asymmetrische Machtverhältnis aufgelöst oder Machtmißbrauch ausgeschlossen werden könne, wurden in der SPSH Beratungsgrundsätze entwickelt, die im folgenden vorgestellt und mit Bezug auf diskursanalytische Aspekte diskutiert werden sollen.

Als Ziel der Beratung wird die Selbstbefähigung der Ratsuchenden, ihr Leben ohne professionelle Hilfe zufriedenstellend gestalten zu können, formuliert. Für diese Zielsetzung sind als beraterische Handlungsmaxime Subjektorientierung, Mitverantwortlichkeit der Ratsuchenden und Transparenz der BeraterInnen formuliert worden.

Allein das Vorhaben in einer asymetrischen Machtbeziehung, wie Experte- Laie, als Ziel die Selbstbefähigung (der Laien), ohne die ExpertInnen leben zu können, zu verfolgen, erscheint paradox und irgendwie überheblich. Dennoch gibt es genügend von Ratsuchenden als positiv bewertete Beratungs- und Therapieerfahrungen und -erfolge, die dies zu legitimieren scheinen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Erfahrungen des Machtmißbrauches in Hilfsbeziehungen. Die Beratungsmaximen der SPSH sind als Möglichkeiten, Machtmißbrauch in der Beratung möglichst gering zu halten, gedacht worden. Mit Berücksichtigung diskursanalytischer Aspekte soll die Frage verfolgt werden welche Möglichkeiten und Grenzen dieses Vorhaben hat.

Subjektorientierung
Unter subjektorientierter Arbeit ist zu verstehen, die Perspektive der Ratsuchenden einzunehmen und ihre Interessen und nicht etwa eigene oder die dritter Auftraggeber zu verfolgen. Die Aufgabe der BeraterInnen wird darin gesehen, das vorhandene Informationswissen zur Verfügung zu stellen, um den Blick für bisher seitens der Klientel nicht wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Den BeraterInnen wird diesbezüglich eine Katalysatorenfunktion und die Aufgabe gemeinsam mit den Betroffenen durch genaues Fragen Unterstützung bei Klärung oder der Entwicklung von deren Interessen zu leisten zugedacht.

Das heißt für die BeraterInnen zum Beispiel dann, wenn sich ihnen die Einschätzung aufdrängt, daß von Ratsuchenden eine ungünstige Entscheidung getroffen wurde, sie auf mögliche Gefahren oder Konsequenzen hinzuweisen, ohne dabei die Entscheidung und Selbstverantwortlichkeit der Ratsuchenden infrage zu stellen. Es sind aber gemeinsam mit den Ratsuchenden betreffs ihres Anliegens die mikrostrukturellen Bedingungen in deren Lebenssituation genau zu untersuchen, um potentielle Handlungsmöglichkeiten herauszuarbeiten. Zugleich sind die daran geknüpften motivationalen, kognitiven und emotionalen Aspekte der Handlungsfähigkeit der Klientel zu erfragen, um die subjektiven Gründe der Entscheidung für oder gegen eine Handlungsalternative klären und verstehen zu können.

Die Subjektorientierung hat dort ihre Grenzen, wo der pädagogische Akt der Vermittlung von Beratungs- und Informationswissen stattfindet. Diskursanalytisch betrachtet findet die Machtausübung über die diskursiven beraterischen Inhalte statt, die vom Ratsuchenden anzueignen sind ohne Möglichkeit die Güte des Wissen bis zur letzten Instanz überprüfen zu können. Die Laien sind hier mehr oder weniger auf blindes Vertrauen zurückgeworfen.

Die Rolle des Laien ist gerade durch diese relative Unwissenheit bezüglich des ExpertInnenwissens definiert. Das Wissensgefälle wird nur begrenzt abflachbar sein.

Nicht zu vergessen ist allerdings, daß jedes Individuum tagtäglich einer Menge von diskursiven Einflüssen ausgesetzt ist zu denen es sich bewußt oder unbewußt verhalten muß. Die (pädagogische) Vermittlung von Informationswissen mit der Frage nach der Nützlichkeit für die Betroffenen im Sinne von Subjektorientierung zu verbinden, beinhaltet zumindest einen Bewußtwerdungsprozess und mittels dessen auch diskursive Machtaneignung.

Mitverantwortlichkeit der Ratsuchenden
Im engen Zusammenhang mit dem Prinzip der Subjektorientierung stehen die konzeptionellen Beratungsmaximen Mitverantwortlichkeit der Ratsuchenden für den Beratungsprozess und die Transparenz der BeraterInnen. Den Betroffenen wird bereits in den ersten Beratungsstunden, in denen ein Auftrag für die BeraterInnen entwickelt wird, zuverstehen gegeben versucht, daß sie für die Gestaltung der Beratung mitverantwortlich sind. Die Mitverantwortung der Ratsuchenden bedeutet die Aufforderung und zugleich Ermutigung, bei der Auftragserteilung an die BeraterInnen bei der Themenwahl und bei der Zielsetzung in der Beratung ihren Interessen und Befindlichkeiten zu folgen. Sie werden eingeladen, nachzufragen und zu hinterfragen, wenn ihnen Interventionen, Fragen oder Hypothesen der BeraterInnen unverständlich oder inadäquat erscheinen oder sie sich aufgrund dessen unwohl fühlen, ohne eine genaue Erklärung zu haben. Den Ratsuchenden wird vor oder in der ersten Beratungsstunde zusätzlich ein Informationspapier gereicht, in dem der Punkt Mitbestimmung des Beratungsprozesses und die beraterische Haltung erläutert werden.

Trotz dieser Vorkehrungen ist die Erfahrung aus der SPSH-Praxis, daß diese Erläuterungen für einige Ratsuchende zu Beginn schwer zu verstehen ist. Folgende zwei Mißverständnisse treten auf: Entweder wird hinter der Aufforderung zur Mitbestimmung des Beratungsprozesses von einigen Ratsuchenden Inkompetenz der BeraterInnen im Sinne von mangelndem ExpertInnenwissen vermutet, oder die Betroffenen vermuten, sie haben nun die gesamte Verantwortung für die Beratung zu tragen, was sie erheblich unter Leistungsdruck setzten kann. Vor dem Hintergrund, daß Hilfe durch ExpertInnen üblicherweise -und das ist ja auch das Schöne an der Inanspruchnahme von ExpertInnen- beinhaltet, sich voll und ganz anzuvertrauen zu dürfen und in einer Situation von Hilflosigkeit Unterstützung bekommen zu können, sind solche Mißverständnisse nur allzu verständlich und die Aufforderung zur Mitverantwortlichkeit des Beratungsprozesses muß geradezu paradox erscheinen. Diese Irritationen sehe ich aber nicht als zwingenden Grund, das Vorgehen in der SPSH-Beratung zu verändern, sondern eher als Bestätigung dafür, daß der Gedanke und die Möglichkeit äußerst unüblich ist, Ratsuchenden ausdrücklich Mitentscheidungsrecht und Kontrollmöglichkeit über ExpertInnenmacht einzuräumen.

Hier findet diskursanalytisch reflektiert eine Entselbstverständlichung von bisher festgelegten Rollen (Laie- Experte) statt, die für Ratsuchende verwirrend sein kann, gerade weil das asymmetrische Setting damit noch lange nicht aufgelöst wird. Ein weiterer verwirrender Aspekt ist die Anforderung an die Betroffenen über das inhaltliche und methodische Vorgehen in der Beratung mitentscheiden zu sollen und es stellt insofern eine Überforderung der Laien dar, als sie ja gerade über das Expertenwissen nicht in voller Bandbreite verfügen (können). Für die Aufforderung zur Mitentscheidung haben die Ratsuchenden je nach ihrem Wissensstand letztlich nur ihr Befindlichkeit mit der jeweiligen beraterischen Intervention und die Nützlichkeit in ihrem Lebensalltag als Kriterium. Der Hinweis, daß die BeraterInnen aber genau diese Kriterien nicht besser wissen können als die Ratsuchenden stellt das ExpertInnenwissen infrage, weil die Erwartungshaltung an die ExpertInnen Hilfe durch Besserwissen impliziert.

Die Ratsuchenden werden also im gewissen Sinne auf sich selbst zurückgeworfen und positiv wie negativ ent- täuscht. Die BeraterInnen sollten wissen, daß das ein schmerzhafter Prozess sein kann, der sich auf die beraterische Beziehung auswirken kann. Es gibt aber immer die Möglichkeit, dort wo diese Erwartungshaltung und die Überforderung stark ist, die Vereinbarung zu treffen, diese Verantwortung an die BeraterInnen zu deligieren, womit es gleichzeitig zum bewußten Thema wird und klar zu vermitteln ist, daß die Verantwortung von Lebensentscheidungen gar nicht übernommen werden kann, da die Konsequenzen ja von den Betroffenen ertragen werden müssen. Die Mitverantwortlichkeit der Ratsuchenden erfordert zwei Prozesse von den Ratsuchenden: den der wenn auch partiellen Aneignung von beraterischen Diskursen oder Bedeutungskontexten und den des bewußten Verhaltens im Sinne von ablehnen oder annehmen dieser Kontexte, wobei auch das Zurückweisen von beraterischen Thesen eine nicht geringe Anforderung an die Ratsuchenden bedeutet.

Resümierend läßt sich festhalten, daß mit diesem Entselbstverständlichungsprozess durch die Aufforderung zur Mitbestimmung in der Beratung wiederum nicht die Machtverhältnisse verändert werden, aber immerhin die Möglichkeit eröffnet wird Macht in der Beratung zum Thema zu machen, worin die Vermittlung von Wissen über Machtwirkung und der Möglichkeit des bewußten Verhaltens dazu eingeschlossen ist. Dieses Vorgehen ist deshalb wichtig, weil die Betroffenen in ihrem Alltag in Abhängigkeitsverhältnissen leben.

Transparenz
Eng verbunden mit dem soeben beschriebenen Vorgehen ist der Anspruch der Transparenz, den die SPSH-BeraterInnen an sich stellen. Den Ratsuchenden wird von Beginn an das Recht zugesprochen, jederzeit Fragen zum beraterischen Vorgehen stellen zu dürfen und beantwortet zu bekommen. Die BeraterInnen haben dafür Sorge zu tragen, ihr jeweiliges Vorgehen und ihre beraterischen Hypothesen möglichst verständlich an die Ratsuchenden zu vermitteln, um überhaupt erst die Voraussetzung für eine Mitbestimmung der Betroffenen zu schaffen. Diese Maxime wird in der Praxis nicht an jeder beliebigen Stelle sinnvoll sein, sondern dann, wenn inhaltlich neue Aspekte und Hypothesen und oder neue methodische Überlegungen seitens der BeraterInnen entwickelt werden.

Wie gesagt liegt der Hauptsinn dieser Maxime darin, den Ratsuchenden möglichst klar und verständlich den Blick auf Handlungsmöglichkeiten und -alternativen für ihre Lebenssituation zu eröffnen, als Basis für die Entscheidungen, die von ihnen getroffen werden müssen. Die Transparenz und Subjektorientierung im Vorgehen der BeraterInnen ist die Voraussetzung für die Eröffnung der Mitbestimmungsmöglichkeit von Ratsuchenden im Beratungsprozess. Es wird angenommen, daß durch die Thematisierung von handlungsorientierten lebens- und beratungsprozessbezogenen Entscheidungsmöglichkeiten Lernprozesse in Richtung Mitbestimmung und Selbstbefähigung in Bewegung gesetzt werden und partiell Gefühlen von Angst und Ausgeliefertsein, die gerade in der Situation von Erwerbslosigkeit und nicht nur dort aktualisiert und nahegelegt sind, entgegengewirkt wird.

Die Grenzen der Transparenz sind dort zu sehen, wo die Aneignung der beraterischen Diskurse für die Laien (individuell verschieden) unter Berücksichtigung ihres Bildungswissens zu voraussetzungsvoll ist.

Diese Maxime zu verfolgen kann immer nur ein Annäherungsprozess sein und bedarf auf Seiten der BeraterInnen ein gutes Einschätzungswissen und Vermittlungskompetenz, wenn die Verfolgung solcher Maxime nicht auf Kosten der Vertrauensbasis im Kontakt zu den Ratsuchenden gehen soll. Klar ist, daß die mittels beraterischer Diskursinhalte und Positionierung im Setting stattfindende Machtwirkung sich prinzipiell auch mit Tranzparenz nie ganz auflösen lassen wird und damit ist auch die Möglichkeit der Kontrolle von beraterischer Kompetenz und die Verringerung der Gefahr des Machtmißbrauches für Ratsuchende immer bis zu einem bestimmten Grade begrenzt bleibt.

Dennoch macht Transparenz im beraterischen Vorgehen Sinn für den Prozess der Selbstbefähigung und für die Streitbarkeit von beraterischen Thesen, da wo sie von den KlientInnen bestritten werden können.

Die oben genannten Beratungsmaxime sind auch als ein Teil der konzeptionell gefassten Qualitätskriterien für die Beratungsarbeit der SPSH zu verstehen. Es lassen sich noch weitere Qualitätskriterien, die als Anspruch verfolgt werden, nennen. Voraussetzung auf Seiten der BeraterInnen für das oben beschriebene beraterische Vorgehen ist die Bereitschaft, das eigene beraterische Handeln auch in Bezug auf die genannten Maxime kritisch zu reflektieren. Darüber hinaus stellt eine lebensweltbezogene und handlungsorientierte Beratungsarbeit, im Selbstverständnis der SPSH nicht geringere sondern höhere Qualifikationsanforderungen an die BeraterInnen, im Vergleich zur traditionell definierten psychologischen Beratungsarbeit. Zusätzlich zum klassischen psychologisch-diagnostischen und beraterisch-therapeutische Wissen besteht für die Beratungsarbeit mit Erwerbslosen in der SPSH die Anforderung und der Anspruch folgender Wissensbestände:
  • Wissen um widersprüchliche gesellschaftliche Funktion von psychosozialer Arbeit
  • Wissen um Machtverhältnisse im Beratungssetting
  • Wissen um Selbst- und Fremdstigmatisierung
  • Wissen um soziale Lebenswelten (soziokulturelle Werte, Habitus, Sprach- und Denkgewohnheiten)
  • Wissen um sozialrechtliche Möglichkeiten
  • Wissen um Umschulungs-, Qualifizierungsmöglichkeiten und Arbeitsmarktlage
  • Wissen um andere psychosoziale Versorgungsmöglichkeiten
Die SPSH nimmt also -wie wahrscheinlich alle ExpertInnen- sehr wohl in Anspruch Kriterien für eine qualitativ gute Beratung zu definieren. Als eines der wesentlichsten Kriterien sehe ich den Anspruch und die Bereitschaft sich mit der Funktion von Beratung und den damit verknüpften Machteinflüssen auseinanderzusetzen und die eigene Arbeit kritisch zu hinterfragen.

Zusammenfassung
Resümierend läßt sich feststellen, daß die vorgestellten SPSH-Beratungsmaxime für die Frage nach einem sinnvollen Umgang mit ExpertInnenmacht im asymmetrischen Hilfssetting zwar neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen, aber dadurch Machtausübung und damit verbundene Unterwerfungsakte nicht ausgeschlossen werden können. BeratungsexpertInnenmacht wird, wie Foucault zeigt, sowohl über gesellschaftliche Positionierung im Setting wie auch über Diskursinhalte wirksam. Auch bei der Suche nach inhaltlichen Kriterien für die Qualität von Beratung kann man dem beraterischen Diskurs selbst nicht entrinnen. Vielleicht bedarf es einer genauere Untersuchung von aktuellen beraterischen Diskursinhalten im Hinblick auf ihre Machtentfaltung wie es zum Beispiel durch die Analyse von Macht durch medizinische oder therapeutische Diagnosestellung im Hinblick auf die Ausgrenzung von Wahnsinnigen von Foucault geleistet worden ist, um neue Perspektiven zu eröffnen oder Gegendiskurse schaffen zu können.

Die Stärke der Beratungsmaxime der SPSH sehe ich in der Eröffnung der Möglichkeit, Machtverhältnisse im Beratungssetting zum Thema zu machen und sowohl auf Seiten der BeraterInnen, wie auch auf Seiten der KlientInnen ein Bewußtsein dafür schaffen und die Möglichkeit sich dazu unter den gegebenen Beschränkungen verhalten zu können.
Außerdem halte ich die Maxime für die in Beratungen ständig stattfindenden pädagogischen Wissensvermittlungsprozesse für brauchbare methodisch didaktische Orientierungskriterien im Hinblick auf das Ziel der Selbstbefähigung der Ratsuchenden und die Beförderung von Handlungsfähigkeit, auch wenn damit diskursiver Machtausübung nicht zu entrinnen ist.

Interessant ist die Betrachtung der positiven Seiten und Effekte der asymmetrischen Hilfsbeziehung. Marianne Krause-Jakob hat in ihren Untersuchungen darauf hingewiesen, daß eine vorausetzende Bedingung für die positive Bewertung eines Beratungserfolges und zwar sowohl von den KlientInnen wie von den BeraterInnen, die Übernahme beraterischer Deutungskontexte von Ratsuchenden durch den Beratungsprozess ist. Es kann sich dabei um einen Effekt handeln, der durch Lob als Fortschritt der Klientel von BeraterInnen für jedes Anzeichen in Richtung Deutungskontextübernahme affirmiert wird (vgl. Krause-Jakob, 1992, 138 ff.). Damit wäre wieder die beraterische Diskursmacht ursächlich für die Bewertung eines Beratungserfolges. Das subjektive Urteilsvermögen der KlientInnen würde so betrachtet immer infrage zu stellen sein. Dennoch gibt es den Effekt der positiven Bewertung seitens der Klientel als deren subjektive 'Wahrheit'. Foucault erklärt die Unsichtbarkeit und die Wirksamkeit der diskursiven Machtentfaltung gerade damit, daß sie sich überwiegend produktiv und kreativ äußert und als Vielfalt und Reichtum in Erscheinung tritt. Obwohl die Produktivität und Kreativität hier in ihrer negativen Funktion der Machtverschleierung dargestellt werden, drängt sich die Frage auf, welche positiven Möglichkeiten darin liegen. Anders formuliert, gibt es Perspektiven der Veränderung im diskursiven Machtgeflecht durch den Beratungsprozess?

Offenbar, da die BeraterInnen häufiger positives als negatives Feedback erhalten, wenn hier nicht nur Höflichkeits- oder Unterwerfungseffekte zu unterstellen sind, können Ratsuchende mit der paradoxen Situation, sich einer ExpertInnenmacht auszuliefern bzw. anzuvertrauen und dabei das Ziel der Selbstbefähigung zu verfolgen, gewinnbringend umgehen und daraus Nutzen ziehen. Sie berichten über verbesserte Befindlichkeiten und Veränderungen ihrer Lebenssituation. Das ist einerseits ein verwunderliches Phänomen, insofern nie ganz klar ist, ob und wie die Beratung einen Beitrag dazu geleistet hat. Die genauere Untersuchung dieser Frage möchte ich aber der Therapieerfolgsforschung überlassen. Ich vermute hier zwei Aspekte die gewinnbringend für Ratsuchende sein könnten: Erstens die über den Beratungsprozess bzw. die BeraterInnen geleistete soziale Anerkennung und Unterstützung im Interesse der Betroffenen. Zweitens die Vermittlung und Aneignung eines bestimmten Informations- und Erklärungswissens des beraterischen Diskurses und damit eine partielle Aneignung von diskursiver Macht. Die Aneignung von Wissen und damit von partieller Macht findet an vielen Orten der Gesellschaft in asymmetrischen Beziehungen statt und warum nicht auch im Beratungssetting? Unter diesem Aspekt betrachtet ist es gar nicht verwunderlich, daß Ratsuchende in der Lage sind, aus der paradoxen Beratungssituation Nutzen zu ziehen. Das eröffnet die Frage, ob mit Beratung ein Beitrag zur partiellen Veränderung von Machtverhältnissen geleistet werden kann. Ich werde diese Frage im Anschluss an das nächste Kapitel, in dem die Unterstützungsmöglichkeiten durch Beratung für Erwerbslose skizziert werden wieder aufgreifen.
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  5. Unterstützungsmöglichkeiten durch die Beratung und die Darstellung einer möglichen Beratungsstruktur
 
Nachdem grundsätzliche Beratungsmaximen, Analysekategorien und Erklärungsmodelle für die Beratungsarbeit mit Erwerbslosen in der SPSH erörtert worden sind, sollen nun darauf bezogen einige verallgemeinerbare Unterstützungsmöglichkeiten und typische beraterische Vorgehensweisen am fingierten Beispiel veranschaulicht werden.

Die Veranschaulichungen werden im Stil systematischer Verallgemeinerungen auf der reflektorischen Metaebene gehalten, stellen also Möglichkeitstypen, begrenzt auf die oben genannten Aspekte, dar. Andere ebensowichtige Faktoren und Möglichkeiten für einen erfolgreichen Beratungsprozess wie zum Beispiel der Kontakt und die Beziehung zwischen BeraterIn und RatsuchendeR oder Humor in der Beratung werden an dieser Stelle nicht thematisiert. Bei den typisierten Beratungsschritten sind auch alle im konkreten Beratungsprozess auftauchen wichtigen n emotionalen, kognitiven und motivationalen Schwierigkeiten, Wiederholungen, sowie unvorhergesehene Ereignisse und Zwänge, Thematisierung von beraterischer Beziehung usw. aus Gründen der Übersichtlichkeit ausgelassen, weil es mir an dieser Stelle nicht um die Thematisierung aller in der SPSH-Beratung möglichen oder der besten beraterisch- therapeutischen Interventionsmöglichkeiten geht.

Als mögliche verallgemeinerbare Ziele und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Beratungsarbeit werden im Konzept der SPSH genannt:
  • Hilfe zur Überwindung der Isolation
  • qualifizierte Betreuung in psychischen Krisensituationen
  • Reduzierung der Folgen von Stigmatisierung und Ausgrenzung
  • Stabilisierung und Motivierung
  • Unterstützung zur Zeitstrukturierung
  • Unterstützung zur Gewinnung neuer Perspektiven
Als einen der wichtigsten Punkte in der Beratung mit Erwerbslosen läßt sich die ´solidarische` Grundhaltung der BeraterInnen benennen, die in der SPSH durch das Wissen um die psychischen Belastungen, die mit der mit Erwerbslosigkeit verbunden sein können, den analytischen Blickwinkel auf die Handlungsfähigkeit der Betroffenen und das subjektorientierte Vorgehen im Interesse der Betroffenen konstituiert wird.

Darin impliziert ist die in der Beratungsbeziehung vermittelte soziale Anerkennung als Stärkung der Selbstwertgefühle der Betroffenen, die unter anderem aus dem subjektorientierten Vorgehen resultiert und eine zusätzliche Gewichtung allein aus der Tatsache der relativ anerkannten gesellschaftlichen Machtposition von BeraterInnen erhält.

Als anderer wichtiger Aspekt der Unterstützung zur Selbstbefähigung ist die wie oben erläuterte Vermittlung von beraterischem Wissen, insbesondere auch des partiellen Wissens um gesellschaftliche bzw. diskursive Machtgeflechte, zu nennen.

Ich möchte die Auflistung nicht näher erläutern und dafür Möglichkeiten der Unterstützung am Beispiel der fingierten Klientin veranschaulichen.

Nehmen wir an, eine vierzigjährige alleinlebende Frau wendet sich an die SPSH und schildert eine Problematik wie sie eingangs von mir dargestellt wurde. Sie ist seit eineinhalb Jahren erwerbslos und hat wenig Geld. Sie leidet unter Schlafstörungen deren Ursache nach Befund ihres Hausarztes nicht in einer organischen Störung zu suchen ist. Sie klagt sich selbst an, nicht genug für ihre berufliche Perspektive engagiert zu sein, obwohl sie genug Zeit hat. Sie ist besorgt über ihr Befinden und zweifelt an ihrer Fähigkeit überhaupt wieder einer geregelten Tätigkeit, hier Umschulung, nachgehen zu können. Es ist für sie zunehmend unangenehm sich mit ihren Bekannten oder FreundInnen zu treffen, einerseits, weil sie wenig Geld hat und es peinlich findet eingeladen zu werden und damit befürchtet zur Last zu fallen, andererseits hat sie das Gefühl keinen Gesprächsstoff beitragen zu können.

Der erste Schritt in einer SPSH- Beratung wäre, der Frau die Rahmenbedingungen für die Beratung, das beraterische Vorgehen nach den Kriterien Subjektorientierung und Transparenz mit anderen Worten: ihr Recht, jederzeit Verständnisfragen stellen zu dürfen und über Themenstellung und die Gestaltung der Beratung mitentscheiden zu können., zu vermitteln.

Der zweite Schritt wäre die Eröffnung der Frage, mit welcher ihrer genannten Problematiken der größten Leidensdruck verbunden ist, bzw. welche Problematik zunächst Thema der Beratung sein soll, mit dem Ziel einen beraterischen Auftrag zu vereinbaren. Denkbar wäre, daß an dieser Stelle die BeraterInnen die Hypothese des wie oben beschriebenen Zusammenhangs zwischen der Erwerbslosigkeit und den nahegelegten subjektiven Befindlichkeiten vertreten und sie der Frau als eine Erklärungsmöglichkeit für ihre geschilderten Probleme vorstellen und durch Fragen nach anderen möglichen Ursachen überprüfen. In der Beratungspraxis wird die Mitteilung, daß sehr viele erwerbslose Menschen ähnliche Erfahrungen, Verhaltensweisen und emotionale Empfindungen entwickeln wie die Ratsuchende, häufig als große Entlastung empfunden. Die Vermittlung der obigen Aspekte, Bedeutungen und Zusammenhangserklärung von Erwerbslosigkeit und nahegelegtem psychischen Befinden trägt zum Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der Betroffenen bei. Sie impliziert die Botschaft, normal zu sein, nicht persönlich schuld zu sein, und dennoch Verantwortlichkeit und Handlungsmöglichkeiten für die Gestaltung der individuellen Lebenssituation zu besitzen oder entwickeln zu können.

Unter anderen ließen sich folgende Zusammenhangsannahmen für die einzelnen angeschnittenen Problembereiche aufstellen:

T1 - Die Situation der Erwerbslosigkeit löst bei der Frau Existenzängste und Gefühle der Ohnmacht aus, die möglicherweise ein Grund für die Schlafstörungen, ihre depressiven Stimmungen und ihre Motivationsverlust sind.

T2 - Die Schlafstörungen haben nicht (allein) psychosomatischen sondern organischen Ursprung, was von einem Spezialisten zu überprüfen wäre und sind ein gewichtiger Faktor für die schlechte Befindlichkeit der Ratsuchenden

T3 - Der Ausschluss von der Möglichkeit den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit aktiv zu bestreiten, verringert ihr Selbstwertgefühl.

T4 - Die gesellschaftlich nahegelegte Denkweise bzw. Stigmatisierung, Erwerbslose als ´Untüchtige` zu verdächtigen, verunsichert die Frau zusätzlich zu ihrem ohnehin schon durch die Erwerbslosigkeit bedingt reduzierten Selbstwertgefühlen in Hinblick auf ihre sozialen Kontakte.

T5 - Die Vorwürfe gegen sich selbst und ihre Sorge nicht normal zu sein können durch die Mitteilung, daß es nicht nur ihr sondern vielen erwerbslosen Menschen ähnlich ergeht, entkräftet werden.

Diese Annahmen und darin enthaltenen Informationen würden gemeinsam mit der Frau auf den für sie darin enthaltenen Klärungswert und die Angemessenheit ihres Befindens und ihrer Lebenssituation und mittels anamnestischer und biografischer Fragen überprüft werden. Dabei ist das Kriterium für die Weiterverfolgung dieser Annahmen die Akzeptanz und Übernahme dieser Deutungskontexte durch die Klientin.

Für die Klientin wird sich die Entscheidung für die Akzeptanz der beraterischen Thesen an der von ihrem subjektiven Standpunkt aus wahrnehmbaren Nützlichkeit für ihre Lebensinteressen und Bedürfnisse im Hinblick auf eine verbesserte Befindlichkeit bemessen. Die Akzeptanz kann ihrerseits natürlich auch in blindem Vertrauen zu den beraterischen Thesen begründet sein.

Findet die Ratsuchende keine der bisher vorgestellten beraterischen Thesen hilfreich oder plausibel, wird die Suche nach anderen Zusammenhangsannahmen mittels weiterer anamnestischer und biografischer Fragen beginnen. Diese Möglichkeit soll nicht weiter verfolgt werden, denn es ging darum für die Beratung mit Erwerbslosen einen möglichen Beratungstyp darzustellen, um Unterstützungsmöglichkeiten zu veranschaulichen. Ich setze voraus, daß die Klientin die beraterischen Zusammenhangsannahmen übernimmt. Sie hätte dadurch für sich ein Erklärungsmodell zum eigenen Selbstverständnis, was die Ohnmachtsgefühle verringern könnte und die Angst verückt zu sein. Als anderer Beratungseffekt könnte auch durch die darin vermittelte soziale Anerkennung durch die BeraterInnen eine Verstärkung ihrer Selbstwertgefühle und eine Entlastung oder Veringerung ihrer Schuldgefühle möglich sein.

Als nächster Schritt würde nun die Vereinbarung eines Beratungsauftrages und die Bestimmung des im Moment wichtigsten Themas folgen.

Ein Auftrag könnte sein: Selbstwertgefühle im Zusammenhang mit der beruflichen Entwicklung und als nächstwichtige Themen könnten von ihr die vom Arbeitsamt angekündigte Umschulung,weil eine zeitliche Befristung besteht und ihre Schlafstörungen gewählt werden. Bezüglich ihrer Schlafstörungen könnte bzw.sollte der KlientIn angeraten werden, sich nochmals von SpezialistInnen genauer untersuchen zu lassen. Bis dahin wird ihr vorgeschlagen, Zusammenhänge zwischen Lebensereignissen und -gewohnheiten zu beobachten sowie Beinflussungsmöglichkeiten ausfindig zu machen.

Die BeraterInnen würden der Klientin bezüglich der Umschulung nach genauerem Erkunden ihrer Lage, Informationen zu ihren rechtlichen Möglichkeiten und anderen Umschulungsangeboten mitteilen oder ihr die Quellen für die Informationsbeschaffung nennen.

Daran geknüpft ist die Eröffnung der Frage, welche Interessen sie bezüglich beruflicher Perspektiven hat. Ein erster Schritt dabei könnte sein, sich zunächst ihre Idealvorstellungen zu vergegenwärtigen, um im nächsten Schritt Realisierungsmöglichkeiten, die sich den Idealen zumindest annähern, zu entwickeln.

Für den Fall, daß sie derzeit kein Interesse hätte oder es aufgrund ihrer Befindlichkeit nicht möglich und ratsam ist eine Umschulung, Fortbildung oder Erwerbstätigkeit aufzunehmen wäre nach Möglichkeiten zu suchen, die Umschulung mit den für sie daraus entstehenden geringstmöglichen Nachteilen, ablehnen zu können.

Im Anschluss daran, wäre die Frage zu verfolgen, wie sie ihr Leben als Erwerbslose ohne tagesstruktierende Rahmenbedingungen selbst so gestalten kann, daß sie darin für sie haltgebende Strukturen schafft. An dieser Stelle sind alle für sie sinnstiftende und realisierbare Aufgaben und Betätigungsfelder gefragt. Das ist ein schwieriger Punkt, insofern das was sinnstiftend ist immer mit gesellschaftlichen Werten verknüpft ist ebenso die soziale Anerkennung. Dazu bedarf es möglicherweise auch einiger Umbewertungsprozesse von den Ratsuchenden, um eigene Kriterien für sinnstiftende Tätigkeiten zu entwickeln, für die dann aber keine oder nur geringe gesellschaftliche oder soziale Anerkennung zu erhalten ist. Ebenso sind ihre Interessen bezüglich sozialer Kontakte genauer abzuklären und nach realisierbaren Möglichkeiten zu suchen. Ein solches Vorgehen würde auch für die Überbrückung von un/-bestimmten Zwischenzeiten bis zur Aufnahme von einer Beschäftigung, Umschulung usw. möglich sein. Als Unterstützungsmöglichkeiten für die Arbeitsplatzsuche lassen sich außerdem folgende operationalisierbare Vorgehensweisen, Themen und Informationsvermittlungen aufzählen: Lebensgestaltung und Planung, berufliche Neuorientierung, sozialrechtliche und psychosoziale Informationen zur Erwerbslosigkeit, Umschulung und Weiterbildung, Informationen zur Erstellung von Bewerbungsunterlagen, Rollenspiele zur Selbstbehauptung, Kommunikationstraining, Bewerbungstrainig, Reflexion und Analyse der eigenen Befindlichkeit, Entspannungsübungen, Hilfen zur Bewältigung der Zeit der Erwerbslosigkeit wie 'die Philosophie der kleinen Schritte'.

Als eine weitere Unterstützungsmöglichkeit zur Überwindung der Isolation können der Klientin auch Gruppenangebote der SPSH zu diesen Themen angeboten werden oder Adressen für angeleitete Gruppen oder Selbsthilfegruppen oder andere (Freizeit-) Veranstaltungsorte genannt werden.
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  6. Reflexion der Nutzbarkeit diskursanalytischer Aspekte für die psychosoziale Beratung mit Erwerbslosen:
 
In diesem abschließenden Kapitel werde ich der Frage der Nutzbarkeit diskursanalytischer Aspekte für die psychosoziale Beratung mit Erwerbslosen nachgehen. Statt um Ergebnisse wird es sich eher umvorläufige Überlegungen und die Formulierung von Fragen auf drei verschiedenen Ebenen der Beratungsarbeit gehen:
  • die Ebene der Öffentlichkeitsarbeit, einer Beratungsstelle wie die SPSH
  • die Metaebene beraterischer Reflexion
  • die Ebene des beraterischen Vorgehens
Die Ebene der Öffentlichkeit

Eine interessante Frage scheint mir, ob und wie die Machtwirkung der Beratungsdiskurse positiv im Interesse der Erwerbslosen genutzt werden kann und genutzt wird.

Eine der im SPSH-Konzept genannten Unterstützungmöglichkeiten ist die 'Reduzierung der Folgen von Stigmatisierung und Ausgrenzung'. Begreift man die stigmatisierenden gesellschaftlichen Denkweisen über die Erwerbslosen, wie die Unterstellungen von Faulheit, Ausnutzung der sozialen Hängematte und anderen personalisierenden Schuldzuschreibungen als einen Diskurs über Erwerbslose und damit auch der Erwerbstätigkeit, ich möchte ihn als Leistungsdiskurs bezeichnen, so stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einen Gegendiskurs zu schaffen, der im Interesse der Betroffenen wirksam ist. Als ein Versuch einen Gegendiskurs zu eröffnen, ist die Öffentlichkeitsarbeit der SPSH zu betrachten, über psychosoziale Auswirkungen der Erwerbslosigkeit zu informieren und damit dem Schulddiskurs entgegenzuwirken. Mit dem Zusammenhangsaufweis von Krankheit und Erwerbslosigkeit, der im oben beschriebenen Schaubild aus dem Konzept, das auch als Material für die Öffentlichkeitsarbeit genutzt wird, wird deutlich, daß dieses Vorhaben sofort wieder in die Gefahr gerät die Erwerbslosen zu Pathologisieren und damit mit einem anderen Stigma zu behaften. Eine psychosoziale Beratungsstelle bleibt so betrachtet als Absender für die Schaffung eines Gegendiskurses zweifelhaft.

Insofern aber SozialwissenschaftlerInnen die Diskursmacht ihrer Disziplin vertreten, wären sie geignete ProduzentInnen eines Gegendiskurses. Die Frage die sich abgesehen von den Diskursinhalten immer stellt und die ich nicht beantworten kann, ist, wie und ob eine genügend große Mächtigkeit eines solchen intendierten Gegendiskurses hergestellt werden kann. Die Lobby der Erwerbslosen ist bisher nicht groß, obwohl die Zahl der Betroffenen gegewärtig ständig zunimmt. Schenkt man der Rede der vielerorts beschworenen Krise der Arbeitsgesellschaft glauben, läßt sich auch nicht erwarten, daß die Zahl der Erwerbslosen abnehmen wird. Es eröffnet sich die Frage, welche Perspektiven sich für die Betroffenen ergeben, wenn sie sich vielleicht eines Tages in der Mehrheit befinden und Erwerbslosigkeit so gesehen 'normal' wird. wartet auf eine Antwort. Aber ob in dieser Zukunftsvision Perspektiven für einen Gegendiskurs im Interesse der Betroffenen zu erwarten sind, wage ich angesichts der politischen Entwicklungen zu immer größeren Sparmaßnahmen im sozialen Bereich zu bezweifeln. Einstweilen bleibt die wenn auch zweifelhafte Möglichkeit der politischen Aufklärungsarbeit in Richtung Thematisierung der gesellschaftlichen Ursachen des Problems Erwerbslosigkeit, um den Schuldzuschreibungen von Erwerbslosen etwas entgegenzusetzen und -auch im eigenen Interesse als vielleicht zukünftig Betroffene- weitere Möglichkeiten zu suchen.

Die Metaebene der beraterischen Reflexion und das beraterische Vorgehen

Meine Ausführungen zu den Beratungsmaximen der SPSH und deren Reflexion sollten bereits gezeigt haben, wie diskursanalytische Aspekte auf der Metaebene der beraterischen Reflexion nutzbar sein können, indem die Grenzen der Möglichkeiten, den Ratsuchenden mehr Souveranität im Beratungsgeschehen einzuräumen, deutlicher sichtbar werden konnten.

Als weiteren Nutzen diskursanalytischer Aspekte für die Beratungsarbeit sehe ich die Sensibilisierung der Beraterinnen für Machtfragen in der asymmetrischen Hilfsbeziehung, die auch neue Möglichkeiten des Verständnisses von Verhaltensweisen von KlientInnen und damit auch für das beraterische Vorgehen eröffnet. Beispielsweise die Überlegung ob die als Widerstände bezeichneten Verhaltensweisen von Ratsuchenden darin begründet sein könnten, sich der Macht der BeraterInnen nicht unterordnen zu wollen. Dieser Widerstand könnte mit den Betroffenen unter dem Machtaspekt thematisiert und bezüglich der genauen Inhalte differenziert werden,

Für die Überlegung, ob durch die Vermittlung von Wissensbeständen im Beratungsprozess auch Möglichkeiten der partiellen Machtaneignung von den Ratsuchenden stattfinden kann, stellt sich auch die Frage nach den zu vermittelnden Wissensinhalten. Mit der Darstellung der typischen Befindlichkeitsphänomene und den kritisch- psychologischen Analyse- und Erklärungsmöglichkeiten sollte ein Teil des beraterischen Wissensbestandes, der in der Beratung vermittelt wird, gezeigt werden als eine Möglichkeit verkürzenden personalisierenden Denkweisen entgegenzuwirken und gesellschaftliche Zusammenhänge zu thematisieren. Die Wahl dieses Erklärungswissens und ihre Vermittlung ist diskursanalytisch einerseits als der Versuch der Schaffung eines partiellen Gegendiskurses zu betrachten. Soweit diese Wissensbestände für die Interessen der Betroffenen von ihnen als funktional betrachtet werden und sie sich diese Wissensbestände im Hinblick auf neue Handlungsmöglichkeiten aneignen, können sie andererseits zum Beispiel, wenn sie sich bewußt gegen die Diskriminierung oder Schuldzuweisungen wenden können und sich ihres Selbstwertgefühles nicht berauben lassen, eine relative Bemächtigung daraus ziehen.

Die beraterischen Diskursinhalte und zum Beispiel auch wiederum die hier genannten kritisch-psychologischen Analyse- und Erklärungsmodelle, genauer auf darin implizierte Machtwirkungen mit Hilfe der von Foucault erarbeiteten Analyseergebnisse zur Genealogie der medizinischen und psychiatrisch-therapeutischen Disziplinen zu untersuchen, könnte vermutlich noch mehr Aufschluss geben.

Eine weitere vorläufige Idee ist die Frage, ob sich für die Wissensvermittlung und die Umdeutungsprozesse im Beratungsgeschehen auch die von Foucault für seine Forschungen entwickelten methodische Vorgehensweisen für die Diskursanalyse der Geschichte der Denksysteme brauchbar für das beraterische Vorgehen anwenden lassen könnten. Wie schon beschrieben geht es im Beratungsprozess um die Vermittlung von neuen Deutungskontexten. Das heißt das, daß Umbewertungen und neues Wissen vermittelt werden, indem Denkweisen und Bewertungen der Ratsuchenden infrage gestellt werden. Kritisch-psychologisch betrachtet werden die subjektiven Begründungen und Deutungen im Hinblick auf verkürzende oder den Interessen der Betroffenen entgegenstehende Denkweisen hinterfragt. Wie aber wäre es, wenn auch seine methodischen Prinzipien zur Analyse der Inhalte der Ideengeschichte als Kriterien für die Analyse der Ideen der Klientel, der BeraterInnen für Umdeutungsprozesse aktuell genutzt werden. Foucault nennt für sein methodisches Vorgehen folgende regulative Prinzipien als Entgegensetzung zu traditionellen Begriffen, die die Geschichte der Ideen beherrscht haben:
  • 1. Ereignis statt Schöpfung
  • 2. Serie statt Einheit
  • 3. Regelhaftigkeit statt Ursprünglichkeit
  • 4. Möglichkeitsbedingungen statt Bedeutungen (vgl. FOUCAULT 1992, 35 ff).
Diese inhaltlichen Aspekte des Prinzips der Umkehrung und der Kritik könnten für den beraterischen Diskurs selbst, wie auch für die Denkweisen der Ratsuchenden als Analysemittel weiterverfolgt werden.

Für die Analyse von Denkweisen und deren Umdeutungsprozesse bietet sich als eine Möglichkeit ein der rational-emotiven Therapie ähnelndes Vorgehen, wie A. Ellis es erarbeitet hat an, mit dem Unterschied, daß andere inhaltliche Kriterien genutzt werden, um.zu neuen Denkweisen oder Erkenntnissen zu gelangen. Ein Beispiel dazu: Foucault postulierte das regulative Prinzip des Ereignisses als Kategorie für die Analyse der Geschichte der Ideen, um damit die Möglichkeit in der Geschichtsschreibung und Forschung die Bildung von neuen oder anderen Zusammenhangsannahmen oder auch gerade um sich der vorhandenen entledigen zu können, zur Sichtbarmachung der Macht der Diskurse. Ereignis als Analysebegriff heißt statt der Idee der Schöpfung und der Annahme von geplanten Einheiten, die Idee des Zufalls, des Diskontinuierlichen und der Materialität einzubeziehen.

Er selbst schieb dazu:
'Die geringfügige Verschiebung, die hier für die Geschichte der Ideen vorgeschlagen wird und die darin besteht, daß man nicht Vorstellungen hinter den Diskursen behandelt, sondern Diskurse als geregelte und diskrete Serie von Ereignissen - diese winzige Verschiebung ist vielleicht so etwas wie eine kleine (und widerwärtige) Maschinerie, welche es erlaubt, den Zufall, das Diskontinuierliche und die Materialität in die Wurzeln des Denkens einzulassen. Drei Gefahren, die eine bestimmte Form der Historie zu bannen versucht, indem sie das kontinuierliche Ablaufen einer idealen Notwendigkeit erzählt.' (Foucault 1992, 38).

Ließe sich nicht die Kategorie des Ereignisses auch für die Analyse der individuellen biografischen Ideengeschichte und Denkweisen von KlientInnen und BeraterInnen fruchtbar nutzen, indem die Konstruktionen über Ursache und Verantwortung bzw. Schuld an bestimmten Gegebenheiten der aktuellen oder vergangenen Lebensgeschichte auf Aspekte des Zufalls der Diskontinuität und der Materialität hin überprüft werden und Lebensgeschichte damit zu einer Serie von diskontinuierlichen Lebensereignissen changiert. Für Begründungen der Lebenssituation Erwerbslosigkeit und die Beurteilung beruflicher Werdegänge könnte das bereichernde Aspekte im Interesse der Betroffenen ergeben.
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  Literatur:
  Foucault, M. (1992). Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/Main: Fischer.
Holzkamp, K. (1983). Die Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main; New York: Campus.
Holzkamp, K. (1986). ' Wirkung' oder Erfahrung der Arbeitslosigkeit - Widersprüche und Perspektiven psychologischer Arbeitslosenforschung. In Argument Sonderband AS 139, (9 - 37), West-Berlin: Argument-Verlag.
Ter- Nedden, C (1986). Arbeitslosigkeit: Zeithaben als Zeitverlust. In Argument- Sonderband 139, (38 - 53), West-Berlin: Argument-Verlag.
Kieselbach, T. u. Wacker ,A. (1985). Individuelle und gesellschaftliche Kosten der Massenarbeitslosigkeit. Psychologische Theorie und Praxis. Weinheim und Basel: Beltz.
Schwartz, R. D. (1996). Studie widerlegt die These von der Hängematten-Mentalität. In Frankfurter Rundschau, Jahrgang 52, Nr. 50/9, (1). Frankfurt/Main: Druck- und Verlagshaus.
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