zur Materialienseite

Materialien aus Fortbildungen der SPSH: "Den Schatz heben - zur Archäologie der Frage" im Juli 1998, Referatsbeitrag von Renate Schumak

Die Macht des Fragers - Sprache und symbolische Macht nach Pierre Bourdieu

Mein Referat beschäftigt sich mit der Macht der Beraterin/Therapeutin/Psychologin, die in einer psychologischen Veranstaltung ihrer Klientin/Patientin Fragen stellt. Es geht jetzt nicht mehr um die Macht, die in der sprachlichen Form der Frage selbst begründet ist (oder zu sein scheint), sondern um die soziale Position derer, die fragen - und in dieser Position das Recht haben zu fragen.

Ich beziehe mich auf den Text von Pierre Bourdieu "Was heißt Sprechen?", dem 2. Kapitel aus seinem Buch "Sprache und symbolische Macht", 1990 in Wien erschienen. Es werden die theoretischen Grundlagen zum Thema "Sprache und symbolische Macht" erläutert . Den Transfer auf die Psychologie müssen wir selbst leisten, wobei ich dazu schon einige Überlegungen mit vortragen werde. Ansonsten bin ich in der Darstellung der Überlegungen von Bourdieu nah am Text geblieben, so dass ihr - hoffentlich - eine klare Vorstellung von seiner Argumentation bekommen könnt.

Einleitung
1. Die autorisierte Sprache: die gesellschaftlichen Bedingungen der Wirkung des rituellen Diskurses
2. Einsetzungsriten
3. Die Macht der Repräsentation
4. Beschreiben und Vorschreiben: zum politischen Handeln

Einleitung:

Die Sozialwissenschaft hat es mit Realitäten zu tun, die bereits benannt und klassifiziert sind. B. benennt als Aufgabe der Wissenschaft, diese sozialen Vorgänge des Benennens, des Definierens, zu ihrem Gegenstand zu machen. Sozialwissenschaft soll den Beitrag der Wörter zur Konstruktion des Sozialen untersuchen, und: den Beitrag des Klassifizierungskampfes, der, wie er sagt, ein Element jeden Klassenkampfes ist.

Das heißt: Die Sprache und die Vorstellungen strukturieren für die Menschen die Wahrnehmung, und das umso grundlegender, je allgemeiner die Sprache anerkannt, d.h. autorisiert ist. "Kein sozialer Akteur, der nicht auch im Rahmen seiner Möglichkeiten Anspruch darauf erhöbe, zu benennen und benennend die Welt zu gestalten: Klatsch, Verleumdung, Beleidigungen, Elogen ... entsprechen - nur eben in der kleinen Münze des Alltags - jenen feierlichen Kollektivakten der Ernennens, Feierns oder Verurteilens, die den allgemeinen anerkannten Autoritäten obliegen."

Also ist die Sprache selbst sozial umkämpft, in dem Maße wie sie die Wahrnehmung und damit auch die Handlungsmöglichkeiten der sozialen Akteure bestimmt. B. nennt dies ‘symbolischen Kampf’ um die anerkannte Ausdeutung der Welt. Und diese Anerkennung selbst ist eine Machtfrage. Es kommt darauf an, wer in welcher Position, mit welcher sozialen Gruppe im Hintergrund, etwas sagt.

Hier entsteht eine Art Zirkel: Ein Wort, eine Vorstellung von der Welt wird legitim durch die soziale Macht des Sprechers; indem er spricht, zeigt und verfestigt er diese Macht und zugleich die Legitimität seiner Worte (oder seines Diskurses).

(Ganz so aussichtslos, wie es klingt, ist es nicht, denn die soziale Macht des Sprechers, bzw. seiner Gruppe ist selbstverständlich auch umkämpft: Bei B. ist die Voraussetzung all seiner Theorieelemente ein fortwährend stattfindender Klassenkampf, ein Kampf um gesellschaftliche Positionen; dadurch wird die Statik des ‘die da oben haben die Macht und deswegen kann man nichts machen’ durchbrochen, wenngleich auch nicht im einem naiven Sinn: die Ausgangsbedingungen sind eben nicht gleichverteilt.)

In der Sprachwissenschaft gibt es ein Phänomen, dass diesen Mechanismus paradigmatisch auf den Punkt bringt: die sog. Performativen Akte. Dies sind sprachliche Akte, bei denen der Akt aus nichts anderem besteht als aus der Sprache selbst, wie z.B. wenn Chirac die Fußballweltmeisterschaft eröffnet: er tut dies mit den Worten "Hiermit eröffne ich die Fußballweltmeisterschaft" und damit ist sie eröffnet. Er kann dies nur tun, weil er autorisiert ist, dies zu tun.

B. sagt: " Die Autorität auf der die performative Wirkung des Diskurses beruht, ist ein ... Gekannt- und Anerkanntwerden, das... sich selbst als etwas, das offiziell, d.h. vor den Augen und im Namen aller, den Konsens über den Sinn der sozialen Welt erzwingen kann,..." Nach einem Wortspiel (der Kanonisten) handelt es sich um "das Mysterium des Ministeriums". Aufgabe der Sozialwissenschaft ist es also, "in die Theorie der sozialen Welt eine Theorie dieses "Theorieeffektes" hineinzunehmen, der über die Durchsetzung einer mehr oder weniger autorisierten Vorstellung von der sozialen Welt die Gestaltung der Realität eben dieser Welt beeinflusst."

Die Wissenschaft selbst wird damit auch zu ihrem eigenen Gegenstand, denn sie spielt mit in diesem Machtspiel, sie ist unvermeidlich engagiert im Kampf um die Durchsetzung der legitimen Vorstellung der Welt. Nach Bourdieu beruht die symbolische Macht der Sprache auf dem symbolischen Kapital der Institution oder Gruppe, für die der Sprecher spricht. Der Wissenschaftler, der Professor, Doktor, Akademiker, verfügt über solches symbolisches Kapital, indem er, zumindest nach außen (also wenn er zu Nicht-Akademikern spricht), immer auch für eine ganze Gruppe spricht, d.h. für die Wissenschaft.

Die Macht des Psychologen besteht so auch in seinem symbolischen Kapital, als akademischer Praktiker, der die Definitionsmacht hat. Manchmal spricht eher unser Titel als unsere Zunge. Praktisch offensichtlich wird dies immer dann, wenn wir eine psychologische Stellungnahme oder gar ein Gutachten (z.B. für Sozial- oder Wohnungsamt) formulieren: auch wenn ich nichts anderes hineinschreibe, als die Betroffenen zu sagen haben, hat mein Text eine Bedeutung, den ihre Worte nicht haben. Ich verleihe ihrer eigenen Argumentation Legitimität, und das funktioniert umso besser, je mehr ich meine Fachsprache benutze, also ihre Argumentation in einen Fachdiskurs übersetze, sodass zusätzlich zu Titel, Stempel und Briefpapier auch meine Wortwahl sich selbst legitimiert. Dies ist ein eher positives Beispiel. Diese Macht des legitimen Diskurses funktioniert selbstverständlich auch gegen(über) unseren KlientInnen/Patientinnen. zurück

 

1. Die autorisierte Sprache: die gesellschaftlichen Bedingungen der Wirkung des rituellen Diskurses

"Nehmen Sie etwa an, ich sehe ein Schiff vor dem Stapellauf, gehe hin, schmettere die Flasche dagegen, die am Rumpf hängt, verkünde: ‘Ich taufe dieses Schiff auf den Namen Josef Stalin’ und schlage, um das Maß vollzumachen, die Keile weg; das Dumme ist bloß: Ich war nicht für die Taufe bestimmt"

(J.L. Austin, How to do things with words)

B. entwickelt seine Argumentation in Auseinandersetzung mit renommierten Sprachwissenschaftlern wie Saussure und Austin. Er kritisiert an der Sprachwissenschaft, dass sie die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen des Gebrauchs der Wörter ausklammert, indem sie eine radikale Trennung zwischen ‘interner’ und ‘externer’ Sprachwissenschaft vornimmt, d.h. eine Wissenschaft von dem sozialen Gebrauch der Sprache abspaltet von der ‘eigentlichen’ Wissenschaft der Sprache. In dieser letzteren dann muss die Macht der Wörter in ihnen selbst gesucht werden, also da, wie Bourdieu sagt, wo sie nicht ist. "Die illocutionary force, die außersprachliche Macht von Aussagen, ist nun einemal ... in den Wörtern selber nicht zu finden".

B. zufolge ist es ein Irrtum (dem neben Austin übrigens auch Habermas unterliege), im Diskurs, oder im Wort selber, den Ursprung seiner Wirkung entdecken zu wollen. Statt dessen bezieht die Sprache ihre Wirkung und ihre Macht von außen. Bei Homer z.B. wurde dem Redner, der das Wort ergreift, das skeptron gereicht, welches die Autorität zu sprechen verleiht.

Die Stilmittel der legitimen und autorisierten Sprache sind eher Symbole dieser äußeren Autorität, und B. sagt: "die stilistischen Merkmale der Sprache von Priestern, Professoren und Institutionen ganz allgemein, ... ergeben sich aus der Position, die diese Inhaber delegierter Autorität in einem Feld der Konkurrenz einnehmen." Es ist also nicht der Sprachgebrauch, der die Macht verleiht, sondern dieser ist abhängig von der sozialen Position des Sprechers, also seiner Teilhabe an der Autorität der Institution. Wenn ein anderer so spricht, ist es Hochstapelei.

Der autorisierte Sprecher, der "Hochstapler mit skeptron", kann nur deshalb mit Worten wirken, weil in seinem Wort das symbolische Kapital konzentriert ist, das von der Gruppe akkumuliert wurde, deren Bevollmächtigter er ist. Eine performative Aussage ist dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht von einer Person kommt, die auch die ‘Macht’ hat, sie auszusprechen. (Vgl. Das Zitat von Austin).

Die Besonderheit von autoritären Diskursen, wie es Vorlesungen oder Predigten sind, bestehen darin, dass es nicht so sehr darum geht, dass sie verstanden werden, sondern dass sie anerkannt werden. Das Wort wird nur mächtig, wenn die Autorität anerkannt wird, die ihm seine Macht verleiht, und dies bedeutet: "Die Sprache der Autorität regiert immer nur dank der Kollaboration der Regierten, das heißt mit Hilfe sozialer Mechanismen zur Produktion jenes auf Verkennung gegründeten Einverständnisses, das der Ursprung jeder Autorität ist."

Auf die Psychologie bezogen: Die Ausklammerung der sozialen Wirklichkeit auf der der Diskurs beruht, lässt sich nicht nur in der Sprachwissenschaft kritisieren, sondern auch in allen psychologischen Kommunikationstheorien. Es kommt eben nicht nur darauf an, was wie gesagt wird (ob ‘Ich’, ‘Du’, ‘Inhalts-’ oder ‘Beziehungsbotschaften’) sondern es kommt entscheidend darauf an, wer in welcher sozialen Position etwas zu wem sagt. Innerhalb dieser Positionsbestimmung dann ist es natürlich wieder sehr bedeutsam, wie etwas gesagt wird. Aber das Wie eliminiert nicht das Wer. ("Für eine Akademikerin ist die wirklich kooperativ")

Was macht die Autorität des Psychologen aus (wenn ihm eine zugeschrieben wird)? Es ist wohl die Wissenschaft und in gewisser Weise die Medizin (für den Klinischen Psychologen). Klassischerweise ist der Psychologe, wo er mit dem Psychiater gleichgesetzt wird, (was mit dem Therapeutengesetz innerhalb der Klinischen inzwischen berechtigter ist denn je), ja eine der Instanzen, die im Zweifelsfall über Unzurechnungsfähigkeit, Behandlungsbedürftigkeit usw. Entscheidet, also letztlich über die Legitimität von Handlungs- und Lebensweisen.

Je nach Kontext haben wir also die Macht der Institution Wissenschaft (nicht vergessen, es kommt nicht unbedingt auf den Inhalt sondern auf die Anerkennung der Institution an), die Macht der Institution Psychiatrie oder auch die Macht des Gesundheitsamts (das uns zugelassen hat) hinter uns.

Man kann gegen diese Mächte rebellieren und ihnen ihre Legitimation absprechen. Das ändert aber noch nichts an der Existenz dieser Institutionen. Vor allem ist dies kein Akt, den ein einzelner wirklich vollziehen kann. Die Macht der Medizin kam erst durch die Gesundheitsbewegung in Gefahr. Man kann auch sagen, einer ist kein ‘guter Psychologe’, und ihn so nicht ernstnehmen. Dies allerdings setzt die Anerkennung der Legitimität der Psychologie als solcher voraus, und ist deswegen in diesem Kontext zunächst unerheblich. (Für uns als einzelne PsychologInnen ist das allerdings nicht unerheblich.) Ich glaube, die ‘Vorurteile’ gegenüber Psychologen ‘die spinnen ja sowieso alle selber’, ‘die reden nur komisch daher’ (ihr kennt ja sicher alle den Witz mit der Frage nach der Uhrzeit, die der gefragte Psychologe nicht beantworten kann, und der dann so endet: ‘aber gut, dass wir darüber geredet haben’) zeigen ein widersprüchliches Verhältnis von Widerstand und Unterordnung unter die Psychologie als Institution: Widerstand, weil, wie in diesem Witz, die Macht ihrer Sprache als Firlefanz zurückgewiesen wird, und Unterordnung, weil sie dennoch als Institution, der man unterworfen werden kann, existiert (der Witz wäre keiner, würde er nicht eine Autorität lächerlich machen). zurück

 

2. Einsetzungsriten

"Das Diplom gehört genauso zur Magie wie die Amulette"

Pierre Bourdieu, Über Sprechen

Wie wird jemand zu dem, was er ist? In Abgrenzung zu dem Begriff der Übergangsriten aus der Ethnologie spricht Bourdieu über Einsetzungsriten. Es geht um diejenigen Rituale, die soziale Grenzen markieren, und die Menschen bestimmte soziale Orte zuweisen. Dabei zielt der Ritus darauf ab, dass eine willkürliche Grenze nicht als willkürlich erkannt, sondern als legitim und natürlich anerkannt wird. Paradigmatischer Einsetzungsritus ist die Beschneidung, wodurch das männliche Kind "zum Mann wird". Die Beschneidung markiert den Übergang vom Kind zum Erwachsenen, daher sprechen Ethnologen von Übergangsriten.

Bourdieu jedoch meint, dass die wesentliche Trennung dabei nicht diejenige zwischen Vorher und Nachher ist, sondern diejenige zwischen denen, die beschnitten werden können und denen, die das nicht können, also hier die soziale Trennung von Männern und Frauen. Unterschiede (ob wie hier schon bestehende biologische oder erst durch den Akt konstituierte) werden sozial festgeschrieben, aus dem Jungen wird ein ‘richtiger Mann’, und er bleibt ein Mann, egal wie er sich jemals in seinem Leben verhalten wird.

Dem Ritus gelingt es, etwas Kontinuierliches in etwas Diskontinuierliches zu verwandeln, indem ein Grenze festgelegt wird, die natürlich erscheint. B. nennt als Beispiel die Zulassungsprüfungen zu den französischen Eliteschulen. Zwischen dem letzten, der besteht und dem ersten, der durchfällt, entsteht ein Unterschied zwischen Alles oder Nichts (in Hinblick auf die französische Bildungskarriere).

Einsetzungsriten haben die Wirkung, über die Vorstellung von der Wirklichkeit die Wirklichkeit selbst zu beeinflussen. Eine reale Wirkung ist, dass sich sowohl die Vorstellungen und das Verhalten der anderen von der eingesetzten Person ändern, als auch die eingesetzte Person die Vorstellung ändert, die sich von sich selber hat, indem sie sich dem Verhalten verpflichtet fühlt, das von der neuen Position entspricht. Der Einsetzungsakt verleiht jemandem Identität, indem ihm öffentlich mit Autorität mitgeteilt wird, was er ist und was er zu sein hat. Werde, was du bist: werde deiner Definition gerecht, sei deinem Amt gewachsen, verhalte dich standesgemäß.

"Der Erbe, der auf sich hält, wird sich als Erbe benehmen und vom Erbe geerbt werden, wie Marx sagt, das heißt in die Dinge eingehen, von den Dingen appropriiert werden, die er appropriiert hat."

Selbstverständlich geschieht dies nicht nur durch einen einmaligen Akt der Einsetzung; besonders erfolgreich wird Zuweisung einer sozialen Position, wenn derjenige, der sie besetzt, die entsprechende Haltung "inkorporiert", verkörpert, also einen entsprechenden Habitus entwickelt (z.B. durch körperliche Initiationsriten). "Mehr noch als die dem Körper äußerlich bleibenden Signale wie Orden, Uniformen, Tressen, Insignien usw. Sind die inkorporierten Signale, also alles, was man ‘Manieren’ nennt - die Art und Weise zu sprechen (der Akzent), zu gehen oder sich zu geben (Gang, Haltung, Auftreten), zu essen usw. - und der Geschmack... dazu bestimmt, zur Ordnung zu rufen und jeden, der es - der sich - etwa vergessen könnte, an den Platz zu erinnern, auf der er durch Instituierung verwiesen ist." (Haben eigentlich männliche Psychotherapeuten immer noch überzufällig oft einen Vollbart?)

Die Macht der Zuschreibung eines Habitus zu einer sozialen Position wirkt in jede Richtung, und hält auch Widerlegungen durch die Praxis stand: Wenn ein Ingenieur nicht rechnen kann, denkt man, er tue es mit Absicht oder er muss seine Intelligenz auf etwas wichtigeres verwenden. Wenn eine Professorin eine Diplomarbeit schlecht bewertet, weil sie die darin verwendete Theorie nicht kapiert, hat sie "eine andere Lesart der Theorie" - und ihre Bewertung wie auch ihr Professorinnendasein haben selbstverständlich Bestand.

Wenn wir in der Beratung dummes Zeug erzählen, kann es passieren, dass diesem dennoch irgendein besonders hintergründiger psychologischer Sinn unterstellt wird, denn wir sind ja schließlich Psychologen (das funktioniert durch die Institution Beratungsstelle bei allen anderen Berufsangehörigen auch). Das, was uns vielleicht nur so herausrutscht (ich denke an den Bericht einer Klientin über eine Therapie, in der der Therapeut ihr zu einem Konflikt mit ihrer Nachbarin sagte: ‘Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil’ und sie dies als eine sehr wichtige Intervention empfand), wird vielleicht genauso als überlegte Intervention wahrgenommen, wie das, was wir uns genau überlegt haben. Im Extremfall: Was der Therapeut tut, ist therapeutisch (gemeint). Das schließt Kritik an unserem Vorgehen nicht aus. Aber diese Kritik bezieht sich doch auf unser professionelles Vorgehen - auch dort, wo es gar nicht professionell (gemeint) war. zurück

 

3. Die Macht der Repräsentation

In diesem Kapitel setzt sich B. mit Begriffen wie "Region", "Ethnie" auseinander. Nach ihm ist der Kampf um die Definition der "regionalen" oder "ethnischen" Identität ein besondere Form des Klassifizierungskampfes, die nur zu verstehen ist, wenn man über den Gegensatz von Realität und Vorstellung hinauskommt: Man muss in das Reale auch die Vorstellungen vom Realen miteinbeziehen oder "den Kampf zwischen Repräsentationen - im Sinne von mentalen Bildern, aber auch von sozialen Kundgebungen, mit denen diese Bilder manipuliert werden sollen". (95) Klassifizierungskampf meint hier: Kämpfe um das Monopol auf die Macht über das Sehen und Glauben, das Kennen und Anerkennen, über die legitime Definition der Gliederung der sozialen Welt und damit über die Bildung und Auflösung sozialer Gruppen.

Für "die Wissenschaft, die den Anspruch erhebt, Kriterien mit höchst solidem Realitätsbezug vorweisen sollen", heißt es deshalb, "möglichst nicht zu vergessen, dass sie lediglich den jeweiligen Stand der Klassifizierungskämpfe festhält, das heißt den Stand der materiellen und symbolischen Machtverhältnisse zwischen denen, die sich je nach Interessenlage mehr dem einen oder mehr dem anderen Klassifizierungsmodus verbunden fühlen, und sich, genau wie die Wissenschaft selbst, gern auf die Autorität der Wissenschaft berufen, um die willkürliche soziale Gliederung, die sie durchsetzen wollen, für realitätsgerecht und vernunftgemäß zu erklären." (97)

D.h.: Der Anspruch, "wissenschaftlich" die Vorstellungen über die "realen" regionalen oder kulturellen Grenzen, über Zusammengehörigkeiten und Trennungen "objektiv" zu begründen, entkommt dem Machtspiel des Klassifizierungskampfes nicht. Die (soziale) "Realität" ist "eine Stätte ständiger Kämpfe um die Definition von Realität". (99)

"Wird der wissenschaftliche Diskurs in den Klassifizierungskämpfen aufgegriffen, um deren Objektivierung er sich bemüht - und wie sollte zu verhindern sein, außer durch ein Verbot seiner Verbreitung, dass auf diese Weise Gebrauch von ihm gemacht wird -, wird er wieder Teil der Realität der Klassifizierungskämpfe" (100)

Daher muss die Wissenschaft "jenes Spiel selber zu ihrem Gegenstand machen, bei dem es um dei Macht der Kontrolle der heiligen Grenzen, d.h. um die gottähnliche Macht über die Vorstellung von der Welt geht, und ei dem jeder, der diese Macht ausüben will (statt ihr zu unterliegen), sich nur zwischen Mystifizierung und Entmystifizierung entscheiden kann". (103)

Jetzt stellt sich natürlich die Frage, inwieweit dies auch für die Psychologie gilt. Besonders in und mit der Klinischen Psychologie findet - soziologisch betrachtet - selbstverständlich ein solcher Klassifizierungskampf statt, nämlich dort, wo es um die Grenze zwischen Normalität und Abweichung (Neurose, Psychose, Persönlichkeitsstörung) geht. Die praktische Wirkung dieser Klassifizierungen werden nicht erst bei der Zwangsunterbringung sichtbar.

Nach Bourdieu ist nun aber das Problem, dass es nicht nur die autoritären Institutionen sind oder auch die autoritären Gurus (ich denke an Hellinger in unserem Fall), die diesem Spiel unterliegen bzw. Es sich zu nutze machen, sondern letztendlich alle, die mit oder ohne die Autorität von Wissenschaft für sich und die Welt eine objektiv gültige Sichtweise in Anspruch nehmen. Es gilt also genauso für humanistische, feministische oder auch Kritische Psychologie. In letzteren beiden Fällen liegt die Parteilichkeit für bestimmte Interessen auf der Hand, bzw. Wird auch entsprechend explizit gemacht. Da genügend Bücher, Zeitschriftenartikel geschrieben und Interviews gegeben werden, wirken die psychologischen Begriffe selbstverständlich in die Alltagswelt, d.h. das Selbstverständnis der Menschen hinein - und kehrt zu uns in Form von "psychologischen Alltagstheorien" aus dem Munde der KlientInnen in unser Arbeitsfeld zurück. Inwieweit diese soziologischen Zusammenhänge nun auch im Rahmen einer konkreten Psychotherapie oder psychosozialen Beratung eine Rolle spielen, bzw. wie genau sie eine Rolle spielen, ist, denke ich, auch eine wichtige psychologische Frage. zurück

 

4. Beschreiben und Vorschreiben: zum politischen Handeln

"Politisches Handeln im eigentlichen Sinne ist möglich, weil die sozialen Akteure als Teil der sozialen Welt über (mehr oder weniger richtige) Erkenntnisse dieser Welt verfügen, und weil man die soziale Welt beeinflussen kann, indem man diese Erkenntnisse beeinflusst. Ziel des politischen Handeln ist es, Repräsentationen der sozialen Welt (mental, verbal graphisch, dramatisch) zu schaffen und durchzusetzen, mit denen die Vorstellungen der sozialen Akteure und damit die soziale Welt selbst beeinflusst werden können; oder genauer gesagt, soziale Gruppen - und mit ihnen das kollektive Handeln, mit denen diese versuchen könnten, die soziale Welt ihren Interessen gemäß zu verändern - zu schaffen und abzuschaffen, indem es die Repräsentationen produziert, reproduziert oder zerstört, die diese Gruppen für sich selbst und für andere sichtbar machen." (104)

Eine bestehende Ordnung funktioniert umso besser, je mehr sie als natürliche erscheint, je weniger also die Willkürlichkeit ihrer Grundlagen sichtbar ist.

Daher sagt Bourdieu: "Politische Subversion setzt kognitive Subversion voraus, Konversion der Weltsicht". Einschränkend dafür gilt aber auch, dass dieses selber nicht nur eine Angelegenheit der Köpfe ist: "Der häretische Bruch mit der bestehenden Ordnung ... setzt jedoch selber voraus, dass ein kritischer Diskurs und eine objektive Krise zusammentreffen, um die unmittelbare Entsprechung zwischen den inkorporierten Strukturen und den objektiven Strukturen, aus denen sie hervorgegangen sind, aufbrechen zu können..." (104)

Der häretische Diskurs muss aber nicht nur die Bejahung des common sense aufbrechen können, er muss auch einen neuen common sense begründen, indem die bislang unausgesprochenen Praktiken einer sozialen Gruppe mit der Legitimität der öffentlichen Manifestation und kollektiven Anerkennung versehen werden.. (Ich glaube, dass das auch wirklich geschieht, kann man an allen sozialen Bewegungen der letzten zwei Jahrzehnte sehen, insbesondere der Frauenbewegung). Jede Instituierung einer neuen sozialen Gruppe dekonstruiert andere Gruppen (im linken Feld als Beispiel der Kampf um den "Hauptwiderspruch": ist es bedeutsamer eine Frau zu sein, und frauenpolitische Kämpfe zu führen oder ist es bedeutsamer, ein Arbeiterkind zu sein (sein zu wollen), um den richtigen Klassenkampf zu führen; in anderer Abgrenzung: wenn ich mich als Frau und Feministin definiere, wird meine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Familie oder zu einer bestimmten Region nicht mehr der Ausgangspunkt meines Kampfes sein).

"Jeder Versuch der Instituierung einer neuen sozialen Gliederung muss mit dem Widerstand derer rechnen, die in dem aufgeteilten Raum die Herrschaftsposition haben... Anders gesagt: die Herrschenden habe ein Interesse am Konsensus, an der grundsätzlichen Übereinstimmung über den Sinn der sozialen Welt auf der Grundlage einer Übereinstimmung über die Prinzipien der sozialen Gliederung" (108)

Was macht bei alldem die Wissenschaft? Bourdieu konstatiert einen Theorie-Effekt, d.h. einen Effekt, den die Theorie auf die Vorstellungen und damit auf das Handeln der sozialen Akteure immer ausübt: "Indem sie (die Wissenschaft) in einem kohärenten und empirisch wirksamen Diskurs manifest macht, was bis dahin unbekannt war, d.h. je nach Fall, unausgesprochen oder verdrängt, verändert sie die Vorstellung von der sozialen Welt und damit auch die soziale Welt selbst, zumindest, in dem Maße, wie sie Praxen möglich macht, die dieser veränderten Vorstellung entsprechen." (110) (Beispiel: die Theorie des Klassenkampfes/ Marxismus)

Die Begriffe der Wissenschaft sind immer beschreibend und vorschreibend zugleich (im Sinne einer self-fulfilling-prophecy):

"Noch die neutralste Wissenschaft übt Wirkungen aus, die überhaupt nicht neutral sind: Die bloße Feststellung und Veröffentlichung des Stellenwertes eines Ereignisses - gemessen nach der Wahrscheinlichkeit, mit der es eintreten wird,...,kann so zur Verstärkung seines "Existenzdranges" beitragen, da sie die sozialen Akteure dazu veranlasst, sich auf dieses Ereignis einzustellen und es geschehen zu lassen, oder, im Gegenteil, sich zu mobilisieren, ihm etwas entgegenzustellen, und sich ihr Wissen über dieses wahrscheinlich eintretende Ereignis zunutze zu machen, um sein Kommen zu erschweren oder sogar zu verhindern." (112)

Der Theorie-Effekt ist umso stärker und nachhaltiger, je realitätsgerechter etwas explizit gemacht wird, und je genauer die gedachten Ordnungen den realen entsprechen: "die durch symbolische Konstituierung mobilisierte potentielle Macht ist umso größer, je mehr sich die klassifikatorischen Merkmale, durch die sich eine soziale Gruppe explizit ausweist und in denen sie sich erkennt, mit den objektiven Merkmalen der für diese Gruppe konstitutiven Akteure decken." (112)

Der Appell: Die Wissenschaft kann "die Grundlage einer Politik werden, bei der sowohl dem Voluntarismus der Unwissenheit oder Verzweiflung, als auch dem laisser-faire ein Ende gesetzt und die Kenntnis dieser Mechanismen als Waffe zu ihrer Neutralisierung genutzt wird; und bei der das Wissen über das wahrscheinlich Eintretende nicht als Aufforderung zu fatalistischer Abdankung oder verantwortungslosem Utopismus verstanden wird, sondern als Grundlage einer Absage an das Wahrscheinliche, die auf der wissenschaftlichen Beherrschung der Gesetze beruht, nach denen die Produktion dieser ungewollten Möglichkeit erfolgt." (113)

zum Anfang
zur Materialienseite

zur Homepage